Brüssel: Da-Ponte-Trilogie, W. A. Mozart

Von der Gleichzeitigkeit der Ereignisse

Da ist ja ganz schön etwas los, in diesem Gebäude in der Rue de la République, Nr. 13, in Brüssel! Ein alter Notar wird, nachdem er seine Tochter als Sexsklavin des im Kellergeschoss befindlichen Privatclubs erkannt hat, auf Grund eines Herzschlags tot aufgefunden; ein Botschafter, bereits früher auffällig geworden und deswegen von seinem Posten abberufen, sucht seinen sexuellen Hunger bei einer Mitarbeiterin zu stillen; zwei junge Youtuberinnen, voll von Lebenslust und Neugierde, geraten, von ihren Verlobten auf die Probe gestellt, bezüglich der gesellschaftlich an sie heran getragenen Treuevorstellungen ins Wanken. Manches mag sich auch wieder gerade biegen; Vieles zum Guten wenden, an Ende jedoch wird der Inhaber des Sexclubs sein Treiben in einem fulminanten Finale mit seinem Leben bezahlen.

Die Inszenierung von Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil des Mozart/da Ponte-Projektes zeigt die drei Stücke Le nozze di Figaro, Così fan tutte und Don Giovanni im heutigen Brüssel im Jahr 2020. Alle Ereignisse finden innerhalb von 24 Stunden an einem gemeinsamen Ort, besagtem Gebäude mit der genannten fiktiven Adresse statt. Wie in jeder urbanen Metropole finden unzählige Ereignisse in großer räumlicher Nähe gleichzeitig statt, ohne dass sie miteinander in direkter Beziehung stehen, wobei sie sich indirekt dann doch wieder gegenseitig bedingen. Die Wege der Personen kreuzen sich und jeder wechselt bzgl. seines Gegenübers in unterschiedliche Rollen und Funktionen. Gerade noch selbstverantwortlich in der Gestaltung des eigenen Lebens, ist man wenig später Kunde, Untergebener, Zeuge von Geschehnissen und Opfer von Machenschaften Anderer. Dreimal hintereinander werden uns die Ereignisse dieses einen Tages aus drei sehr unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Über Bildschirme und Projektionen werden wir Zeuge weiterer Abläufe, so dass jeder einzelne Zuschauer aus der Flut der angebotenen Informationen seinen persönlichen Eindruck gewinnen muss, der sich zwangsläufig von den Wahrnehmungen seines Sitznachbarn deutlich unterscheiden wird.

Alles Dargebotene ist wunderschön, sehr interessant und hochkomplex. Und zwar so komplex, dass sich niemand ohne entsprechende Verständnishinweise in der Vielzahl von Handlungssträngen zurecht finden könnte. Einen Schlüssel zum Verständnis finden wir in drei Farben, eine Farbe für jedes Stück, die uns verraten, wo die entsprechende Szene einzuordnen ist. Das adelige Blau repräsentiert die Welt der Almavivas; Gelb, die Farbe des Neides und der Lüge steht für Lügen- und Inriegenspiels Cosi fan tuttes; Sex und Crime, die Welt des Don Giovanni, erleben wir in Rot. Dabei erkennen wir an der farblichen Grundstimmung der Bühne und der Kostüme, welches Stück wir gerade sehen, wie wir auch an der farblichen Gestaltung der einzelnen Räume des Gebäudes und der in diesem Moment zur Nebenfigur der Kernhandlung gewordenen Sängerdarsteller die Überschneidungen der Handlungsverläufe zuordnen können. Räume mit mehrfacher Zuordnung erscheinen gestreift; die alles verbindende, alles erkennende und alles durchschauende Concierge trägt ein blaues Kleid, rote Schürze und gelbe Schuhe und Gummihandschuhe.

Und dann wäre da ja auch noch die Musik Mozarts – insgesamt 10 Stunden – die uns in die unterschiedlichen musikalischen Welten führt. Nur an wenigen Stellen wird der musikalische Handlungsverlauf durch Zitate der jeweils anderen Opern angereichert, um die verschiedenen Verstrickungen auch akustisch erlebbar zu machen. Wobei das Musik- und Gesangserlebnis durch den optischen Trubel der Vielzahl von durchgehend auf der Bühne befindlichen Personen deutlich leidet. Das Sehen fordert so viel Aufmerksamkeit, dass das Hören geradezu schwer fällt. Eine von einer Person begonnene Arie wird von einer weiteren fortgeführt. Die Figuren, die wir auf der Bühne erleben, begegnen uns – in den selben Kostümen, jedoch an sehr unterschiedlichen Orten der Stadt, dargestellt von den selben Sängern, die wir hören können – gleichzeitig auch in Filmsequenzen. Nur Robert Gleadow, für die Partien des Figaro und des Leporello vorgesehen, konnte unfallbedingt die Aufführungen nicht singen. Für ihn erleben wir den italienischen Bariton Alessio Arduini auf der Bühne. In den vorproduzierten Filmen sehen wir noch Gleadow, in den Life-Übertragungen vom Hintergrund dann Arduini. Das kann etwas verwirren, jedoch wurden wir im Vorfeld entsprechend informiert.

Peter de Caluwe, der Intendant des La Monnaie und initiierender Kopf dieses Projektes, plant den Umbau der Mutschauburg von einem Stagione-Betrieb zu einem Repertoire-Theater. Das bedeutet einen kaum überschaubaren Wechsel der Betriebsabläufe. Wie dieses aktuelle ehrgeizige Inszenierungsprojekt in den nächsten Jahren dann aber wirken wird, wenn das dreizehnköpfige Solistenensemble – zahlreiche Haus- und Rollendebuts sind dabei – sich anderweitig etabliert hat und dementsprechend für diese Aufführungen nicht mehr zur Verfügung stehen, bleibt abzuarten. Die Gefahr besteht, dass die große Komplexität der Anlage dann zur vollkommenden Beliebigkeit verfällt, wenn die einzelnen Figuren und Sänger nur noch an Kleidungsaccessoires zuzuordnen sind. Das ist dann von keinem Betrachter mehr zu leisten. Jetzt allerdings ist das Ganze noch spannend und geschlossen. Der packende Bilderrausch wird nur einmal unterbrochen, wenn die Gräfin Almaviva ihr berühmtes „Dove sono i bei momenti“ singt. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen; das Umtriebige der Handlung weicht der tiefen musikalischen Emotion.

Der 13-köpfige Cast ist großartig, wobei die Männer noch etwas stärker sind, als die Frauen: Björn Bürger, Simona Saturova, Sophia Burgos, Alessio Arduini, Ginger Costa-Jackson, Lenneke Ruiten, Iurii Samoilov, Juan Francisco Gatell, Alexander Roslavets, Caterina di Tonno, Riccardo Novaro, Rinat Shaham und Yves Saelens stemmen die 25 Rollen der drei Opern, dirigiert von Antonello Manacorda.

Schon das Duo Mozart/Da Ponte habe ein weibliches Rollenbild auf die Bühne gebracht, das weit über das seinerzeit übliche hinaus ging: So sind es in allen Stücken die Frauen, die den Männern in allen Punkten um eine Nasenlänge voraus sind. Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand und stellen Treue und Liebe offen in Frage, wogegen das Verhalten eines nihilistischen Machos äußerst schwerwiegende Folgen hat. Daher greift das Produktionsteam inhaltlich die Fragen nach Geschlechtlichkeit, Gender und sexueller Macht auf, und setzt sie in engen Bezug zur Handlung. Außer einer Bebilderung aktueller gesellschaftlicher Diskurse führt dieser Ansatz jedoch zu keiner wirklichen Tiefe. Die Inhalte bleiben austauschbar, wirken in ihrer gewollten Schrillheit teilweise ermüdend und kommen vereinzelt nicht über ein Klischee-Zitat hinaus. „Männer fallen von ihrem Podest, Frauen triumphieren!“, was uns als Spektakel angekündigt wird, schockiert uns heute ebensowenig, wie Frauen, die Hosen tragen. Ist das Produktionsteam an diesem Punkt an seiner eigenen Gestrigkeit gescheitert?

Einem Herrn hat die Premiere von Le Nozze di Figaro so gar nicht gefallen, dass er sich mit nicht enden wollenden Buh-Rufen Luft machen musste. Übertönt wurde er jedoch von dem ansonsten durchgehend begeisterten restlichen Publikum. Langanhaltender Applaus für Sänger, Chor, Dirigat und Orchester. Ovationen für das Produktionsteam. An den weiteren Abenden waren keine weiteren Widerspruchsäußerungen festzustellen. Ob der Herr sich inzwischen mit dem Ganzen angefreundet hatte, oder ob er direkt zuhause geblieben war, ließ sich nicht feststellen.

Insgesamt ein spannendes Projekt, das sowohl in der kommenden Spielzeit wieder aufgenommen werden soll, wie uns auch jetzt schon ein neues Großprojekt ähnlicher Art für das nächste Jahr angekündigt worden ist.

Für alle, die für Mozart nicht mehr bereit sind, auch nur einen Meter zu fahren, gibt es die entsprechenden Aufzeichnungen der Stücke demnächst vom 19.03. bis 18.09.2020 bei operavision.eu.

Ingo Hamacher, 4.3.2020

(c) Segers

Weitere Aufführungen

Le Nozze die Figaro: 05.03., 17.03. und 21.03.2020

Cosi fan Tutte: 08.03., 10.03., 19.03. und 26.03.2020

Don Giovanni: 12.03., 15.03., 24.03. und 28.03.2020