Lieber Opernfreund-Freund,
Vincenzo Bellinis Norma ist noch bis zum Jahresende am Brüsseler Opernhaus La Monnaie in der düsteren Lesart von Christophe Coppens zu sehen. Im Dezember 2021 konnte die Produktion unter Coronabedingungen nur einem sehr dezimierten Kreis von Zuschauern präsentiert werden. Der scheidende Intendant Peter De Caluwe zeigt sie nun vor ausverkauftem Haus und das hochkarätige Sängerensemble reißt dabei das Publikum von den Sitzen.

Der belgische Künstler, Modeschöpfer und Opernregisseur Christophe Coppens löst in seiner Arbeit die Grenzen zwischen den Völkern auf. Römer und Gallier existieren nicht in seiner dunklen, trostlosen Welt – und doch geht es grausam zu, wie die Straßenkämpfe schon während der bespielten Ouvertüre zeigen. Die von Coppens gestaltete Bühne erinnert mit ihrer Betonoptik an eine Mischung aus Verlies und Bunker und wann immer Gefühle in dieser starren Umgebung eine Rolle spielen, sind bei Coppens Autos im Spiel. Besonderes Gottvertrauen verlangt dabei Norma schon ihr Gebet Casta Diva ab, das sie unter einem über ihr schwingenden Auto zelebriert, Pollione und Adalgisa lieben sich im Auto und Normas zerrüttete Gefühlswelt visualisiert sich in einer überdimensionalen Skulptur aus Autowracks. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Pollione mit Norma zusammen am Ende in einem brennenden Wagen stirbt. Das von einigen groben Wechseln abgesehen exzellent austarierte Licht von Peter Van Praet schafft düstere, bedrohliche und fesselnde Effekte und so gelingen dem Produktionsteam eindrucksstarke Bilder, die für sich stehen und wirken.

Das gelingt auch deshalb so hervorragend, weil sich Coppens auf eine eindrucksvolle Sängerriege verlassen kann. Sally Matthews ist keine Belcanto-Norma, aus der geläufigste Koloraturen perlen. Sie ist eine emotionsgeladene, ausdrucksstarke Version dieser Figur, beeindruckt mich dabei durch zart eingestreute Piani ebenso wie durch vokale Ausbrüche bis kurz vor dem Kippen der nicht unbedingt klangschönen, aber immer berührenden Stimme. Ihr zur Seite steht der sizilianische Tenor Enea Scala, der mit schier endlosem Abend und enormer Kraft als Herzensbrecher Pollione gefällt, ohne grobschlächtig zu wirken oder die Emotionen aus dem Fokus zu verlieren. Ebenso gefühlsgeladen kommt Raffaella Lupinacci als glutvolle Adalgisa daher. Die Duette der beiden Damen gehören neben der Casta Diva-Arie wohl zu den klanglichen Höhepunkten der Oper und das Gespann Matthews/Lupinacci erreicht als Kombination eine wunderbare Vollkommenheit. Alexander Vinogradov bringt für den bis zum Schluss unnachgiebigen Oroveso einen profunden Bass voller Durchschlagskraft mit und Lisa Willems und Alexander Marev – beide von La Monnaie preisgekrönte Nachwuchssänger – komplettieren die Solistenriege als ausdrucksstarke Clotilde und als Flavio mit feiner Höhe.

Die Damen und Herren des von Emmanuel Trenque betreuten Chors schleudern dem Publikum die umfangreiche Chorpartie so kraftvoll wie nuanciert entgegen, so dass George Petrou im Graben nicht immer die Fäden zusammenhalten kann. Und dennoch gelingt dem griechischen Dirigenten eine espritgeladene Version von Bellinis Meisterwerk weit jenseits der Hits aus dem Operngalas dieser Welt und er beschert mir einen herrlichen Abschluss meines Opernjahres.
Ihr
Jochen Rüth
29. Dezember 2025
Norma
Oper von Vincenzo Bellini
La Monnaie, Brüssel
Premiere: 9. Dezember 2025
besuchte Vorstellung: 28. Dezember 2025
Regie: Christophe Coppens
Musikalische Leitung: George Petrou
Orchestre symphonique de la Monnaie
letzte Vorstellung: 31. Dezember 2025