London: „Elektra“, Richard Strauss

Keine Frage – die wuchtigen Akkorde des Agamemnon-Motivs zu Beginn gemahnen an die archaische Geschichte der Artriden-Familie. Doch im Setting von Christof Loy und Johannes Leiacker entwickelt sich das Werk zur psychologischen Freud-Studie und darf erst am Ende beim ekstatischen Tanz der Elektra diese Kraft der Antike entfalten.

Das Projekt vom Mai/Juni 2020 kam erst jetzt mit kleinen Änderungen in der Besetzung auf die Bühne. So wie Antonio Pappano seine „Amtszeit“ am ROH 2002 mit Richard Strauss‘ Ariadne und Christof Loy begann, so beendet er nun dieselbe mit Elektra. Und dies schien keine schlechte Wahl. Sowohl der Regisseur, als auch der Dirigent wollen keine hysterisch singenden und spielenden Personen, wie gemeinhin auf die Bühne bringen, sondern an ihrem Schicksal leidende Menschen, die ausweglos in ihren Handlungen gefangen sind. Die glaubhafte Darstellung erfordert große Bühnenerfahrung und intensive gemeinsame Erarbeitung. Mit dem Frauentrio Stemme/Jakubiak/Mattila stehen die besten Voraussetzungen zur Verfügung.

Wir befinden uns im Lichthof eines herrschaftlichen Ringstraßenpalais um 1900. Die Dienerinnen im schwarzen Kostüm mit weißem Kragen, genauso gekleidet auch Elektra. Viel zusätzliches Personal bevölkert die hell erleuchtete Galerie der ersten Etage im Hintergrund. Klytämnestra in großer Abendrobe mit weißer Pelzstola ist nicht nur optischer Mittelpunkt. Karita Mattila ist auch mit ihrer stimmlichen Leistung der Drehpunkt des Geschehens. Sie hat ihre bisherige Geschichte total verdrängt und ausgeblendet, im prunken Reichtum und ausufernden Festen lebt sie dahin, nur ihre Nächte quälen sie. Sie sucht Rat bei ihrer Tochter und messerscharf analysiert diese ihre Situation. Es ist beinahe ein intimes Mutter-Tochter Gespräch und keinesfalls wie so oft ein gegenseitiges Gekeife. Ihre andere Tochter, Chrysothemis, Sara Jakubiak, stimmlich als reife Frau gezeichnet, sehnt sich in ihrem weißen Kleid nach einem Leben an der Seite eines Mannes. Da hat Elektra keine Chance, sie als Mithelferin zu gewinnen. Als schließlich Orest, Lukasz Golinski, erscheint, entwickelt sich die Erkennungsszene zum geschwisterlichen in die Arme fallen. Man hat ungemein Mitleid mit der in diesem Moment fragilen Person der Elektra. Es ist daher fast zwingend, dass ihr Bruder zur Tat der Rache schreitet. Die Rolle des Ägisth, von Charles Workman gesungen, wird als zaudernder Aufsteiger in die Gesellschaft des Geldadels angelegt.

Für viele mag diese schlichte Lesart des wahren Kraftwerks der Gefühlsausbrüche seltsam erscheinen. Sie wird allerdings zwingend und völlig überzeugend umgesetzt. Stimmlich kommt es Nina Stemme entgegen, wenn sie nicht auftrumpfend über Orchesterwogen ankämpfen muss, sondern auch zarte und leise Töne anklingen lassen darf. Die Durchhörbarkeit des Orchesters ist beispielgebend und unterstützt in jedem Augenblick das szenische Geschehen.  Die englischen Übertitel sind für Besucher mit deutscher Muttersprache überflüssig, weil beinahe jedes Wort deutlich auch in diesem großen Auditorium zu verstehen ist.

(c) Bill, Knight

Wie Antonio Pappano mit diesem Werk seine Opernkennerschaft unter Beweis stellt ist einzigartig. Insgesamt ein Meilenstein in der Interpretationsgeschichte dieses Werkes.

PS: Am Nachmittag konnte man mit etwa 200 anderen sangesfreudigen Besuchern am Royal Opera House Chöre von Gershwin und Verdi unter Anleitung eines Chormasters und einer Pianistin anstimmen. Dabei lernte man die Arbeit der Chorsänger am eigenen Leib kennen und erhielt obendrein noch nützliche Tipps für die eigene Stimme und den Gesang. Die monatlichen Termine für das „Sing at the ROH“ sind äußerst beliebt und fast alle schon ausverkauft.

Otto Grubauer, 16. Januar 2024

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Elektra
Richard Strauss
Royal Opera London

12. Januar 2024

Regie: Christoph Loy
Ltg. Antonio Pappano