Vor kurzem verstarb in hohem Alter der großartige Wotan Sir Donald McIntyre des sog. Bayreuther Jahrhundert-Ring in der Regie von Patrice Chéreau. Nicht nur setzte Chéreau mit seiner Interpretation der Tetralogie Richard Wagners einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte dieses größten Werkes der Opernliteratur. Auch Donald McIntyre schuf mit seiner Interpretation der zentralen Figur im Ring des Nibelungen, die viele biographische Züge des Komponisten trägt, ganz neue Maßstäbe, die er mit einer außergewöhnlichen Authentizität und Verinnerlichung zum Ausdruck brachte. Nie werde ich vergessen, wie er nach dem Brudermord an Fasolt im Rheingold minutenlang wie gebannt und in sich gekehrt, weil zutiefst betroffen, mit versteinerter Miene auf der Bühne stand. So eine darstellerische Intensität konnte kein Regisseur vermitteln. Donald McIntyre war selbst die personifizierte Personenregie, auch in all seinen anderen Rollen, die er bis ins 73. Lebensjahr sang. Und er hielt auch den Mythos im Wagnerschen Oeuvre für bedeutsam. Unvergesslich ist natürlich auch sein klangvoller und ausdrucksstarker Bassbariton, mit dem er stets im Mittelpunkt des Bühnengeschehens stand.

© Klaus Billand
Donald McIntyre zeichnete sich als Neuseeländer, wie bekanntlich sehr viele Menschen aus dem angelsächsischen Kulturkreis, durch große Gelassenheit und einen umwerfenden Humor aus. So vereinbarte ich einen Interview-Termin mit ihm zwei Stunden (!) vor der ersten Meistersinger-Aufführung der Bayreuther Festspiele am 26. Juli 2011 im Restaurant Bürgerreuth. Pünktlich saß er da um 14 Uhr, im Smoking bereits, wie aus dem Ei gepellt, bei guter Laune. Dabei war gerade sein Auto mit einer Reifenpanne in der Stadt liegen geblieben, und es musste noch vor der Vorstellung, also bis 16 Uhr, ein Abschleppservice organisiert werden. Unglaublich, dass er dabei die Ruhe für ein Interview fand, in dem er unter anderem Folgendes sagte: Das Tolle bei den Wagner-Rollen ist doch, dass alle Charaktere zwei Seiten haben, also in gewisser Weise bipolar sind. „Wagner must have been bipolar himself. That is where the greatness and the tension come from; madness and genius are very close to each other – this is the ‘Wahn’…” Alle wichtigen Personen im Ring sind in den Augen von Donald McIntyre bipolar. Aber selbst Hans Sachs, den er mit 49 Jahren zum ersten Mal in Zürich sang, ist wie der Ring an sich. „He can do things with force or love. And Sachs describes the Wahn – as the power of love, or the love of power.”

Das ist ja eigentlich das Dilemma des bipolaren Wotans. Aber, sagt McIntyre: „Bipolarität sei nicht nur Spannung, sondern auch Entspannung, beides seien wichtige Seiten der Oper. Aus dem Wechsel von Spannung und Entspannung beziehe die Kunstform innere Kraft und Ausdruck“. So war er Mentor für einige – heute zum Teil weltbekannte – Nachwuchssänger, um ihnen zu zeigen, wie sie „ihre Haltung, ihre Gesamtwirkung auf der Bühne verbessern können.“ Und: Man muss das Publikum zum Nachdenken bringen: „Make them think and excite them!“ Wenn Wagner heute nicht so relevant wäre, würde er sicher nicht so oft gespielt, meinte McIntyre damals. Und: „Don’t be dogmatic, ask questions!” Im Wahn-Monolog des Hans Sachs, der gerade einmal eineinhalb Seiten umfasst, sieht McIntyre alle relevanten Fragen gestellt.

Und da wurde es Zeit, sich um sein liegen gebliebenes Auto zu kümmern – eine Stunde vor der Meistersinger-Aufführung nochmal einen Exkurs in die Banalität mit Abschleppdienst und Reifenreparatur durch den Bayreuther Innenstadtverkehr. Wir schafften es, nachdem all das geregelt war, fünf Minuten vor dem Schließen der Türen auf dem Grünen Hügel zu sein. Das war Donald McIntyre! Und so wird er zumindest mir immer in Erinnerung bleiben.
Klaus Billand, 12. Dezember 2025