Premiere am 27.05.2017
Ein Showstar im Pariser Bordell
In Oldenburg spielt Bizets „Carmen“ nicht in Sevilla, sondern in einem Etablissement namens „L’amour“, einer Mischung aus Varietétheater und Bordell. Regisseur Robert Lehmeier verlegt die Handlung in das Paris der Uraufführungszeit (1875). Carmen ist unter den Halbweltdamen eine Art Showstar – ihre Habanera gerät zur effektvollen Shownummer, bei der sie vom Bühnenhimmel schwebt. Diese Carmen-Figur ist nicht nur die stolze, von Freiheitsliebe geprägte Frau, sondern in erster Linie ein Wesen, das die Gelüste der Männer in gezielter und kalkulierter Weise erfüllt. Der „Tanz“ im zweiten Akt beschränkt sich darauf, dass sie am Boden liegt und die Beine breit macht. Und die männliche Gesellschaft, die sie bedient, ist eine Schar von voyeuristischen Herren, die alle uniform in Frack und Zylinder das Etablissement bevölkern. Ihre Bewegungen sind weitgehend synchron, ob sie nun den Arm ausstrecken, die Jacke ausziehen, den Zylinder lüften, auf eine Stufe steigen oder ihren Hosenstall schließen. Und ihren Nachwuchs haben sie auch gleich mit in den Puff genommen: Auch der Kinderchor tritt in Frack und Zylinder auf – man muss schließlich fürs Leben lernen.
Lehmeiers Inszenierung hat durchaus ihre Meriten, sie bewegt sich stets in einem sehr ästhetischen Rahmen. Dazu trägt auch das opulente, durchgängig beibehaltene Bühnenbild von Stefan Rieckhoff bei, das den Zuschauerraum des Staatstheaters auf der Bühne mit Rang und Showtreppe gekonnt fortsetzt. Die Ausstattung ist wirklich sehenswert, auch wenn sie als Rahmen eher für „Die lustige Witwe“ als für „Carmen“ geeignet ist. Zudem kommt, dass Inszenierung und Text doch oft auseinanderklaffen. Und seit wann gibt es in Frankreich Stierkämpfe? Der Auftritt Escamillos gerät ziemlich blass, für Micaëla gibt es dafür eine neue Sicht. Den Kuss der Mutter übermittelt sie nicht keusch, sondern sofort und leidenschaftlich fordernd. Im dritten Akt schleppt sie sich sterbend auf die Bühne. Am Ende ist es mit der Party-Stimmung vorbei: Die Auseinandersetzung zwischen Carmen und Don José ist derart packend inszeniert, dass die Änderungen von Raum und Zeit dank der hervorragenden Sängerleistungen sofort vergessen sind. Es ist ein Kampf – nein nicht bis auf Messer, sondern bis zum finalen Pistolenschuss – der atemberaubend intensiv gestaltet ist.
Mit Melanie Lang als Carmen und Evan LeRoy Johnson als Don José steht ein stets überzeugendes Protagonistenpaar zur Verfügung. Lang spielt alle Vorzüge ihres dunklen, sehr sinnlichen Mezzos voll aus. Die Habanera hätte vielleicht noch mehr wie ein Chanson angelegt sein können, aber die stimmliche Wucht und die optische Präsenz, die sie der Partie verleiht, trägt den ganzen Abend. Johnson erweist sich (darstellerisch eher zurückhaltend) als ein Sänger, der die Partie kraftvoll mit Glanz, Leidenschaft und Sinn für Zwischentöne mitreißend gestaltet. Sein individuelles Timbre, seine sichere Höhe und die gut dosierten Ausbrüche sorgen für eine restlos gute Erfüllung der Partie. Seine „Blumenarie“ führt zu begeistertem Zwischenbeifall. Als Micaëla kann Anna Avakian mit kraftvoll und sicher geführtem Sopran der Figur besondere Prägung geben. Aber sie gibt stimmlich manchmal zuviel und der Liebreiz der Partie geht dabei etwas verloren. Der Escamillo ist eigentlich eine undankbare Partie.
Den eitlen, narzisstischen Charakter der Figur kann Tomaz Wija nur teilweise vermitteln, zumal seine Stimme in der Höhe nur noch über wenig Volumen verfügt. Eine ansprechende Ensembleleistung wird von Timo Schabel (Remendado), Paul Brady (Dancaïro), Ill-Hoon Choung (Zuniga), Aarne Pelkonen (Moralès) Martyna Cymerman (Frasquita) und Hagar Sharvit (Mercédès) geboten. Opernchor und Extrachor (Thomas Bönisch) sowie der Jugendchor KlangHelden (Thomas Honickel) überzeugen mit Klangfülle und Präzision. Das kann man auch über die Leistung des Oldenburgischen Staatsorchesters unter Hendrik Vestmann sagen, der der Musik von Bizet den richtigen Schwung, aber auch delikate Feinabstimmung mit auf den Weg gibt. Bei den dramatischen Teilen scheut er sich aber auch nicht, es ordentlich „krachen“ zu lassen. Durch den kompletten Verzicht auf die Dialoge reiht sich eine Musiknummer nahtlos an die andere. Das ist kein Nachteil.
Wolfgang Denker, 28.05.2017
Fotos von Stephan Walzl