Über Mozarts ersten Versuch einer Opera seria liest man in der älteren musikwissenschaftlichen Literatur Unfreundliches. Zwar sei das Libretto „erstaunlich gut“, jedoch werde der junge Komponist ihm dramaturgisch „kaum je gerecht“, urteilt etwa Ulrich Schreiber. Alfred Einstein bläst in seiner Mozart-Monographie in dasselbe Horn („Mozart ist zu jung, um die Vorteile des Librettos zu nutzen“) und legt den Zeitgenossen des Wunderkinds sein eigenes Resümee in den Mund: „wieviel überflüssige Noten! … Aber welche Taten!“ Das Werk, liest man, sei allenfalls etwas für konzertante Aufführungen. Selbst die gab es in der Vergangenheit höchst selten, in diesem Jahr aber immerhin in Salzburg und Mailand. Von dem Versuch einer szenischen Einrichtung an der Berliner Staatsoper vor drei Jahren ist uns nur noch der zähe Kampf gegen die bleierne Müdigkeit in Erinnerung, die er ausgelöst hat.
Nun also hat sich Claus Guth mit seinem vielfach erprobten Instrumentenkasten des Werkes angenommen, und siehe da: Es ist ein lebendiges Stück Musiktheater dabei herausgekommen. Die Figurenkonstellation ist für dieses Genre angenehm übersichtlich: Mithridates, König von Pontos, ist die Prinzessin Aspasia versprochen, die aber auch von seinen Söhnen Farnace und Sifare begehrt wird; die Liebe des Letzteren wird von ihr erwidert. Dazu gesellt sich die in Farnace verliebte Ismene. Als Mithridates aus einem verlorenen Krieg heimkehrt und die Situation entdeckt, tobt er und will alle töten lassen. Er zieht aber neuerlich in die Schlacht und vergibt sterbend den Söhnen, sodass sich die Paare Aspasia-Sifare und Ismene-Farnace zum glücklichen Ende finden. Daraus macht Guth zunächst in bewährter Weise ein Kammerspiel, in welchem er mit beiläufig wirkender Perfektion seine handwerkliche Könnerschaft in Sachen Personenregie demonstriert. Jeder Gang, jede Bewegung, jeder Blick sind genau gesetzt, jede Figur wird klar charakterisiert. Zu Beginn etwa werden die beiden ungleichen Brüder Farnace und Sifare als verzogener und wohlstandsverwahrloster Nachwuchs präsentiert, der seine kleinen sadistischen Spielchen mit dem Butler treibt. Letzterer ist eine jener hinzuerfundenen Figuren, mit denen Guth gerne seine Inszenierungen anreichert. Weil das Stück eigentlich an einem antiken Königshof spielt, trägt der Butler den Titel „Majordomus“. Philippe Jacq verleiht ihm bei starker Bühnenpräsenz stille Würde mit einem Schuß trockenen Humors.

© Matthias Baus
Es zeigt sich dabei, daß Guths Inszenierungen sich am überzeugendsten in Bühnenbildern von Christian Schmidt entfalten. Hier hat er als Stil die gehobener Innenarchitektur der 1960er Jahre gewählt mit dunkler Holzvertäfelung und Designermöbeln, was der Handlung die Anmutung einer Hochglanz-Fernseh-Soap verleiht. Es gibt wie meist bei Schmidt eine repräsentative Treppe, die zu einer noch repräsentativeren Empore führt. Das bietet der Regie eine Vielzahl an Möglichkeiten für Auf- und Abgänge samt Parallelaktionen auf zwei Ebenen. Durch Drehung des Bühnenaufbaus um 180 Grad zeigt sich überraschend als Rückseite des realistischen Settings eine abstrakte Spielfläche, die lediglich von einer nach innen gewölbten, grauen Wand gesäumt wird, welche gleichmäßig mit schwarzen Löchern versehen ist. Es ist ein Ort der Träume, Ängste und Wünsche der Protagonisten, die hier selbst oder in Gestalt von Doppelgängern, mitunter auch darüber hinaus vervielfacht erscheinen. Immer wieder werden sie von schwarzen Schattengestalten umgeben. All diese Traumfiguren werden von Tänzern dargestellt. Sommer Ulrickson hat dafür Choreographien entworfen, die mitunter klar auf das Geschehen Bezug nehmen, mitunter etwas rätselhaft bleiben, aber immer gut aussehen. Sehr wirkungsvoll sind dabei auch die Schattenwürfe auf die schmucklose Rückwand, die Olaf Winters Lichtregie erzeugt. So wird bei diesem Stück, das im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung sehr langer Arien besteht, optisch attraktiv und szenisch abwechslungsreich die Gefahr von Statik vollständig gebannt.

Diese langen Arien zeichnen sich durch die Rücksichtslosigkeit des jugendlichen Komponisten gegenüber den sängerischen Möglichkeiten aus. Die Titelpartie erfordert einen Baritenor, einen Sänger also, der sowohl über eine profunde, tragende Tiefe als auch über eine leicht ansteuerbare Höhe verfügt. Robert Murray schaltet hier zwischen verschiedenen Registern hin und her, was zu einem uneinheitlichen Klangbild führt. Mancher Ton in der Tiefe gerät gaumig-gequetscht, in der Höhe hilft allzu oft nur das Falsett. Immer wieder setzt der Sänger außermusikalische Mittel ein, bellt einzelne Worte regelrecht heraus. In den Rezitativen ist er mitunter dem Sprechen näher als dem Singen. Nicht immer ist man sicher, ob es sich hierbei um bewußte Gestaltung handelt oder ob vielmehr die Not limitierter stimmlicher Mittel zur Tugend eines stilistisch bei Mozart fragwürdigem Expressionismus gemacht wird.
Blühenden, erfüllten Mozart-Klang lässt dagegen Monika Buczkowska-Ward als Sifare hören. Ein musikalischer Höhepunkt ist ihr Duett mit einem konzertierenden Horn, dessen wunderbar sanft geblasener, weicher Ton sich perfekt an die Singstimme schmiegt. Auch Younji Yi als Ismene beglückt mit einem jugendlich-frischen, zugleich gerundetem Ton. Bei der koloraturgespickten Auftrittsarie von Bianca Tognocchi als Aspasia meint man zu spüren, wie die Sängerin angesichts der enormen technischen Schwierigkeiten interpretatorisch zurückhaltend bleibt. Intervallsprünge und Verzierungen werden ordentlich abgeliefert, aber nicht als Mittel der Gestaltung genutzt. Diese Partie erfordert einen dramatischen Koloratursopran. Tognocchi verfügt indes eher über eine Soubrettenstimme, geläufig zwar, aber mitunter gerade in der Höhe etwas spitz. Je länger der Abend dauert, umso überzeugender wirkt ihr Rollenporträt. Großartig gelingt ihr Duett mit Buczkowska-Ward „Se viver non deggio“.
Franko Klisović schließlich gefällt als Farnace mit einem attraktiv timbrierten Countertenor, der über eine satte Mittellage und eine strahlende Höhe verfügt. Darstellerisch geht er in der Rolle des intriganten Schurken auf.

© Matthias Baus
Leo Hussain setzt mit dem bestens aufgelegten Opernorchester das Können des jugendlichen Komponisten in das beste Licht. Die Streicher gehen zwar historisch informiert sparsam mit dem Vibrato um, halten den Klang dabei aber angenehm rund. Bei den Holzbläsern und den Hörner gibt es schöne Details zu entdecken. Natürlich hatte Mozart in seinem 15. Lebensjahr noch nicht zu dem unverwechselbaren Ton gefunden, den man von seinen Opern ab Idomeneo im Ohr hat. Vieles hätte so oder ähnlich auch von einem seiner weniger genialen Zeitgenossen geschrieben worden sein können. Aber man spürt immer wieder die Lust, mit der Konvention zu experimentieren.
Am Ende sind zweieinhalb Stunden Nettospieldauer nicht zu lange geworden, weil eine ausgefeilte Regie samt choreographischer Elemente äußere und innere Handlung stets im Fluß hält, zugleich aber auch besonderen musikalischen Momenten Raum zur Entfaltung gibt. Sänger und Orchester präsentieren die frühreife Kompositionskunst des jungen Mozart in bestem Licht. Für den Fall einer Wiederaufnahme wünschte man sich aber eine Umbesetzung der Titelpartie mit einem Sänger, der neben darstellerischer Intensität auch über die nötige stimmliche Potenz und den Willen verfügt, diese unter Verzicht auf außermusikalische Mittel zur Gestaltung einzusetzen.
Michael Demel, 9. Dezember 2025
Midridate, re di Ponto
Opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart
Oper Frankfurt
Premiere am 7. Dezember 2025
Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Leo Hussain
Frankfurter Opern- und Museumsorchester