Graz: „Don Carlo“

Musikalisch und szenisch überzeugendes Kammerspiel!

Es sei gleich vorweg gesagt: das war eine großartige Saisoneröffnung und für mich eine der überzeugendsten Grazer Produktionen der letzten Jahre – da haben sich ausgezeichnete musikalische Leistungen mit einer konsequent-schlüssigen szenischen Umsetzung zu einem großartigen Ganzen zusammengefügt – Gratulation!

In Graz hatte man sich nicht für die französische, in Paris uraufgeführte fünfaktige Grand-Opéra-Fassung von 1867 entschieden, sondern für die vieraktige italienische Fassung, die 1884 in Mailand uraufgeführt worden war. Schon die letzte (nicht sehr geglückte) Grazer Produktion des Don Carlo im Jahre 2002 versuchte, primär die Spannungen zwischen den handelnden Personen herauszuarbeiten. Das ist diesmal dem schon aus der Eugen-Onegin-Produktion von 2017 bekannten Team (Jetske Mijnssen – Inszenierung, Gideon Davey – Bühne, Dieuweke Reij – Kostüme, Mark van Denesse – Licht) – mit kleinen Einwänden – sehr gut gelungen. Schon die einleitende Szene vermittelt mit einem starken Bild die Einsamkeit der zentralen Figuren.

Mönch und Männerchor bleiben unsichtbar. König, Königin und Prinz sind knieend ins Gebet versunken – Filippo klammert sich an seinen Rosenkranz, Elisabetta an ihr Gebetbuch und Carlo an einen Dolch. Die Hörner intonieren prachtvoll, Chor und Posaunen setzen klangvoll ein – nur die Intonation des Mönchs von Tapani Plathan ist zunächst ein wenig unsicher. Aber er fasst sich rasch und unter der ruhig-souveränen Leitung von Opernchefin Oksana Lyniv endet diese erste Szene in melancholisch-warmem Orchesterklang. Sofort ist man als Publikum eingefangen – sowohl musikalisch als auch szenisch. In der Szene des Carlos wird stark das spürbar, was Verdi an Ricordi schrieb: Don Carlos selbst war ein Schwachsinniger, cholerisch und unsympathisch. Der ukrainische Tenor Timo Riihonen stürzt sich hektisch ins Geschehen – auch seine Stimmführung ist anfangs unruhig, wenn auch mit absolut sicher-strahlenden Spitzentönen. Eine erfreuliche Überraschung ist das Rollendebüt des erst 25-jährigen, aus dem Opernstudio hervorgegangenen bosnischen Bariton Neven Crnić. Sein schön timbriertes Organ hat deutlich an Volumen und Prägnanz gewonnen. An darstellerischem Profil wird sein Posa noch dazugewinnen. Das fallweise und völlig unnötige Forcieren der Mittellage wird wohl auf eine verständliche Premierennervosität zurückzuführen sein. Das berühmte Duett Carlo-Posa ist in weiten Teilen im Piano geschrieben. Malafii und Crnic haben sich da allzu sehr von ihren Emotionen mitreißen lassen.

Das karge Bühnenbild besteht im Grunde nur aus verschiebbaren Holzwänden, die sich oft zu bedrückender Enge zusammenschieben und die manchmal zwei Szenen parallel sichtbar machen. So erlebt man etwa auf der linken Seite die Schleierarie der Eboli – hervorragend gesungen von der weißrussischen Rollendebutantin Oksana Volkova während im Raum daneben Elisabetta in ihr strenges Königinnengewand gekleidet wird. Der Bühnenbildner sagt dazu: Das Gefühl eines unerbittlichen Drucks der Pflicht, der Religion, der Angst und der Paranoia waren die Hauptatmosphären, die die Gestaltung des Raums bestimmten…..Da die Figuren niemals völlig frei sein dürfen, musste sich der Raum für verschiedene Situationen sowohl ausdehnen als auch zusammenziehen, um die immerwährende, aufgeladene Atmosphäre zu versinnbildlichen. Diese Raumgestaltung symbolisierte – und ersetzte – wohl auch das zwanghafte spanische Hofzeremoniell, das manchen bei der Personenführung ein wenig fehlte. Eine weitere sehr erfreuliche Überraschung war für mich auch die rumänische Sopranistin Aurelia Florian als Elisabetta. Nach ihrer Nedda im letzten Jahr hatte ich Bedenken, wie sie wohl die Elisabetta schaffen werde – und das gelang ihr zweifellos ausgezeichnet. Florian verfügt über einen in der Mittellage und Tiefe sehr dunklen (vielleicht auch allzu sehr abgedunkelten) warmen Sopran, der sich dann bruchlos in zarten Pianotönen, aber auch in sicheren Forteausbrüchen zu öffnen versteht. Dazu überzeugt sie mit ihrem scheu-zurückhaltenden Spiel als enttäuschte und gekränkte Frau – eine sehr schöne Leistung in einer für sie neuen Rolle!

Nach den kammerspielartigen ersten Szenen bildet das Autodafé am Ende des zweiten Akts einen geradezu verstörend grellen Kontrapunkt. Das Orchester trumpft in vollem Glanz auf, Chor und Extrachor der Oper (Leitung: Bernhard Schneider) bieten präzise Stimmfülle – Oksana Lyniv hält alles in großartiger Balance. Es tönt prächtig und nie vordergründig grell. Erschreckend grell wird es allerdings optisch, wenn die von der Inquisition zu Tode Verurteilten nicht wie gewohnt in Kutten von den Mönchen zur Hinrichtung geführt, sondern auf einer endlosen Bank blutig-gefolterte Leiber hereingeschoben werden und am Ende auch die flandrischen Deputierten zu diesen Folteropfern gehören, die ihre Hände dem König entgegenstrecken. Der 36-jährige hünenhafte finnische Bassist Timo Riihonen ist der stimmlich und darstellerisch dominierende Mittelpunkt in dieser blutrünstigen Szene, die von der Regie geradezu minutiös choreographiert ist. Dazu ein Beispiel: als der König einen blutigen Arm der Opfer berührt, zucken die Chormassen erschreckt zusammen. Konsequent ist auch, dass die Stimme von oben nicht unsichtbar bleibt, sondern dass Tetiana Myius als letzte auf der Blutopferbank berührend ihr Solo singt. Ich empfand die krassen Bilder als den Wendepunkt des gesamten Abends. Ab dem 3.Akt durchbrechen die menschlichen Emotionen endgültig die zwanghaften Konventionen.

Der 3. Akt beginnt mit der von Timo Riihonen großartig gesungenen – und vom Orchester sehr schön gestalteten – Szene Ella giammai m’amò. Da musste ich an die Verdi-Biographie von Christoph Schwandt denken, der nachweist, dass es im französischen Originaltext heißt: elle ne m’aime pas und dass man das im Italienischen mit den Worten ‚Ella giammai m’amò‘ vom Präsens in die Vergangenheit auf die entsprechenden Noten gebracht hatte. Von Verdi war Filippo nie als Greis gedacht, der von der Liebe nur als Reminiszenz spricht. In dieser Inszenierung kam dieser Gedanke allerdings ohnedies nicht auf – der finnische Bassist ist ein blutvoller Mann im besten Alter. Dass allerdings sein Verhältnis zu Eboli in seiner großen traumähnlichen Szene allzu sehr in den Vordergrund gerückt wurde – eine kurze szenische Andeutung hätte durchaus gereicht – ist absolut störend. Das endlos-lustvolle Räkeln Ebolis auf Filippos Schreibtisch war einfach peinlich und sollte bei zukünftigen Aufführungen ersatzlos weggelassen werden, nicht zuletzt, weil dies von der musikalisch großartig interpretierten Szene völlig unnötig ablenkt und noch dazu den komplexen Charakter der Eboli-Figur zu Unrecht verfälscht und simplifiziert.

Auch die Großinquisitor-Szene war wohl nicht optimal. Bedrohlich sind zwar die schwarzen Kuttenträger, die den Großinquisitor begleiten – dass allerdings dieser dann auf dem langen Tisch hereinschreiten muss, ist wohl eine nicht sehr geglückte Lösung, um den Großinquisitor offenbar über den hünenhaften Filippo aufragen zu lassen. Außerdem war der begabte junge Russe Dmitrii Lebamba der Rolle und auch dem stimmlich uns als Persönlichkeit dominanten Filippo (noch) nicht gewachsen. Ein Wort noch zu den kleinen Rollen: die waren alle sehr gut und auf hohem Niveau besetzt – Mareike Jankowski (Tebaldo), Albert Memeti (Lerma) und Mario Lerchenberger (Herold).

Am Ende gab es großen und einmütigen Beifall für alle – und es war eine sehr schöne und berechtigte Lösung, dass der erste Vorhang den fünf zentralen Protagonisten gemeinsam galt: die beiden Damen Aurelia Florian und Oksana Volkova sowie die drei Herren Timo Riihonen, Mykhailo Malfii und Neven Crnić waren gemeinsam mit der Opernchefin Oksana Lyniv waren der Garant für einen großen und verdienten Erfolg, in den auch das Regieteam einzubeziehen ist.

Hermann Becke, 29. 9. 2019

Szenenfotos: Oper Graz © Werner Kmetitsch

Hinweis:


Erstmals in Graz gab es schon am Tag nach der Premiere ein Kurzvideo – das ergänzt optisch sehr gut den Premierenbericht!


13 weitere Vorstellungen bis Juni 2020 – teilweise mit anderen Besetzungen


Die Regisseurin Jetske Minjssen ist Teil des Netzwerkes werktreue , zu dem auch Regisseure wie Peter Konwitschny, Calixto Bieito und Tatjana Gürbaca gehören. Für Opernfreunde lohnt es sich, die Homepage dieses Netzwerkes anzuschauen. Wenn man die Namen liest, die dieser Partnerschaft angehören und dort u.a. den Satz findet Unabdingbar ist dabei ein Ansatz aus dem Hier und Heute, dann versteht man die Zugangsweise, die die holländische Regisseurin für ihren Grazer Don Carlo gewählt hat. Das Netzwerk leitet von Zürich aus Gerhard Brunner, der von 1987 bis 2001 erfolgreicher Grazer Intendant war und den man diesmal auch unter Grazer Premierengästen sehen konnte.