Premiere am 5. Dezember 2021
Eine Metapher von hoher Relevanz!
Wer die Biografie des Komponisten Walter Braunfels und die Umstände und Zeit ihrer Entstehung nicht kennt, der muss zu Beginn seiner Oper „Die Vögel“ in der Neuinszenierung von Nadja Loschky im Ausweichquartier Staatenhaus der gefühlt schon eine Ewigkeit in der Renovierung befindlichen Oper Köln ins Zweifeln kommen, ob er im richtigen Stück sitzt. Man sieht, wie sich – noch vor Beginn der Musik – Soldaten mit Stahlhelm und Gewehr langsam über eine ohnehin wie ein graues Schlachtfeld anmutende Bühne an einen unsichtbaren Feind heranpirschen. Es gibt einen heftigen Kanonenschlag, und alle sinken getroffen zu Boden. Nur einer steht zunächst wieder auf, Hoffegut, der eigentlich mit Ratefreund im Reich der Vögel gelangweilt einen Rückzugsort von den Entwicklungen der rastlosen und enttäuschenden Zivilisation sucht. „Die Vögel“ entstanden in der Zeit von 1913 bis 1919, also unterbrochen von 1. Weltkrieg, in dessen Verlauf Walter Braunfels eine Verletzung davontrug und in der Folge zum Katholizismus konvertierte.
Loschky hat also über die Biografie des Komponisten in das Stück gefunden und damit von Beginn an einen interessanten und spannenden dramaturgischen Bogen zum Krieg der Vögel gegen die Götter gespannt, der – angetrieben vom machthungrigen und empathielosen Manipulator Ratefreund – die zentrale Rolle im 2. Akt spielt. Auch die Vögel konvertieren auf eine gewisse Weise, zurück zum Glauben an die Größe der Götter. Hoffegut, ohnehin ein den schönen Künsten aufgeschlossener und harmoniebedürftiger Suchender, ist in gewisser Weise Walter Braunfels selbst. Allerdings ist diese Erkenntnis auch nur dem möglich, der entweder die Biografie des Komponisten kennt oder ein langes und interessantes Interview des Dramaturgen Georg Kehren mit der Regisseurin und dem Dortmunder GMD und Dirigenten des Abends, Gabriel Feltz, gelesen hat. In der Regel ist so etwas vor der Aufführung weder möglich noch auf der Agenda des Opernbesuchers, der nach einem langen Arbeitstag in die Aufführung kommt und das Stück möglicherweise aus sich heraus verstehen will.
Aber der Einstieg macht Sinn, und die Idee wird durchaus interessant weiter verfolgt. Als es zum für Hoffegut alles entscheidenden Dialog mit der Nachtigall zu Beginn der 2. Akts mit herrlich romantisch-lyrischer Musik kommt, und die Nachtigall in einer szenisch ansprechenden Lösung durch sechs anmutige Damen auch choreografisch vervielfacht wird, entsteht nicht nur eine Assoziation zum Wagnerschen „Parsifal“ in Klingsors Zaubergarten mit den Blumenmädchen, sondern man erkennt Blutspuren an Hoffeguts Gewand, gewissermaßen assoziativ zur Kriegsverletzung des Komponisten. Und dieser Erzählstrang findet später beim Auftritt des Prometheus, der die Vögel vor dem Zorn des Zeus als Stellvertreter der Götter vergeblich warnt, auch eine Überhöhung ins Mythologische. Denn nach antikem Mythos wurde Prometheus, der sich einst gegen die Götter erhob, an einen Felsen gefesselt, wo die Vögel beständig an seiner Leber pickten. Wir erleben ihn hier mit dieser Wunde auftreten, ja, wie die Vögel in ihrem Unverständnis und Übereifer sogar seine Leber herausreißen. Und als dies geschieht, bricht auch die Wunde im immer noch ratlos nach der Nachtigall suchenden Hoffegut auf. Ein meines Erachtens nahezu genialer Regieeinfall von Nadja Loschky! Denn nicht zuletzt ruft auch Parsifal in Wagners Abschiedswerk im Höhepunkt des 2. Aufzugs, dessen Musik auch bei Braunfels als passende Referenz subtil zu vernehmen ist, entgeistert „Die Wunde! …“
Derweil hat Ratefreund, begleitet von zwei skurrilen Assistenten als stumme Rollen, im Management der Vogelwelt die totale Macht übernommen und dirigiert sie, die nun eine wahre Festung mit auszubrütenden reinrassischen Eiern als ihre Stadt aufgebaut hat, mit harter Hand. Mit einem beklemmenden Maß an Demagogie führt er hier vor, wie Massen zu manipulieren sind, was ja gerade in Bezug auf die Vorbereitungen und den Ausbruch des 1. Weltkriegs eine große Rolle spielte, aber auch als Metapher weit darüber hinaus gesehen werden kann. Als bedeutender Aspekt dieser Produktion stimmt die ausgezeichnete Personenregie von Loschky mit der Charakterisierung der Protagonisten überein und lässt insbesondere den stärker konturierten 2. Akt mit großer Spannung entstehen, wo Braunfels aus der Aristophanes’schen Komödie eine Tragödie macht. Das (nachkomponierte) Ballett ‚Taubenhochzeit‘ wird persifliert als die allseits mit großer Aufregung verfolgte „Geburt“ eines Kükens aus dem Ei. Was die Mutter nach dem Schlüpfen ihres „Kindes“ noch wert ist, lässt Ratefreund sie danach knallhart spüren. Er achtet noch nicht einmal den Wiedehopf, den früheren Menschen und nun Anführer der Vögel, angemessen. Dieser hängt im erkrankten Zustand an einem Tropf und ist somit ohnehin kaum regierungsfähig, ein weiteres Symbol der Schwäche der Vögel und ihrer zu erwartenden Niederlage gegen Zeus. Dieser ereilt sie nach dem verzweifelten Abgang des Prometheus mit einem wilden Gewitter, das die ganze „Eierburg“ spektakulär zerstört und sogar wilde Kämpfe unter den Vögeln selbst auslöst.
Damit hat das Regieteam, dem neben der weiteren Dramaturgin Yvonne Gebauer auch Wolfgang Nägele als Co-Regisseur angehört, sowie Ulrich Leitner für die phantasievolle Bühne, Irina Spreckelmeyer für die teilweise phantastischen Kostüme und Nicol Hungsberg für das bestens auf die jeweiligen Szenen abgestimmte Licht verantwortlich zeichnen, die ihm besonders am Herzen liegende Welt der Vögel und Menschen mit starken Konturen gezeichnet. Aber auch wir Menschen können uns in dieser Vogelwelt wiederfinden. Der Wunsch der Regisseurin, mit der Verlagerung des Stücks in den Zeitraum seiner Entstehung und damit dem Publikum Assoziationsräume zu schaffen, ist nicht nur löblich, sondern auch gelungen. Das in der Oper so noch nicht erlebte Spannungsfeld zwischen den hier völlig verschieden charakterisierten Figuren des Ratefreund und des Hoffegut verschafft dem Ganzen eine zusätzliche dramaturgische und theatralische Dimension. Man will sich, wie die Regisseurin sagt, „in der Erzählung permanent zwischen einem ersehnten Zustand der Utopie, Liebe und Erfüllung bewegen und gleichzeitig immer wieder eingeholt werden von dem Leid, der Zerstörung, dem Schmerz, den die Figuren erleben mussten. Es ist gewissermaßen ein Vexierspiel.“
Im Laufe des Stückes tritt die Rolle Hoffeguts immer stärker in den Vordergrund, denn er ist der einzige, der dem ganzen Geschehen etwas gedankenverloren Widerstand leistet und allein vom Wunsch beseelt ist, eine erfüllende Liebe in der Vogelwelt zu finden. In der Nachtigall findet er sie ja auch. Und somit wird die lange und intensive 1. Szene des 2. Akts (hier wegen des erforderlichen Bühnenaufbaus die letzte des 1. Akts) mit der Nachtigall zum wahrlich berührenden Moment des Abends – zumal mit der dazu erklingenden herrlichen Musik, welche „zu einer sinnlichen und spirituellen Liebeszene anschwillt, die seit dem zweiten Aufzug des ‚Tristan‘ schwerlich ihresgleichen hat.“ (Alfred Einstein in seiner Uraufführungskritik 1920). Diese Szene wird so zu einem starken Kontrapunkt zur profanen und von Machtdemonstration geleiteten Vogelwelt unter dem Demagogen Ratefreund. Nach dieser Regie und gelungenen Ideenumsetzung nimmt einen das finale Wort des Hoffegut, bevor Loschky ihn hier gar sterben lässt, besonders mit: „Hinab denn, ach, ich hab‘ gelebt!“ Der Abgesang des Hoffegut, in dem noch einmal die schönsten Melodien der Oper versammelt werden, gehört zu den ergreifendsten Opernschlüssen überhaupt. Wenn zuallerletzt noch einmal die Sehnsuchtstöne der Nachtigall erklingen, kann Hoffegut sie nicht mehr verstehen…
Der eigentlich eher mit seinem Wagnerschen Heldentenor als Siegfried et al. betraute Burkhard Fritz war in der Premiere zu erleben (Zweitbesetzung Young Woo Kim) und fand nicht so recht zu den passenden lyrischen Tönen sowie dem Legato, welche bei der emotionalen Zeichnung des Hoffegut so bedeutsam sind. Natürlich konnte er neben einer guten Darstellung in den dramatischeren Momenten überzeugen. Der Australier Joshua Bloom war hingegen als Ratefreund genau der Sängerdarsteller, den sich Braunfels für diese komplexe Rolle vorgestellt haben könnte, in der sogar – ungewöhnlich für die damalige Zeit – Koloraturen gefordert werden. Bloom lotete über einen und schön timbrierten kraftvollen Bass bei guter Resonanz und starker Ausdruckskraft sowie einem überaus intensiven Spiel im 2. Akt alle Facetten der hier gewünschten Rolleninterpretation aus. Er widmet sich übrigens auch dem modernen und zeitgenössischen Repertoire.
Ana Durlovski war eine mit der herrlichen Lyrik und Nuancierung ihres klangvollen Soprans einnehmende Nachtigall und schuf kontemplative Momente, gerade auch mit ihrem Monolog zu Beginn und dem im Finale zum zeitweise erschütternden Geschehen. Eine sehr gute Besetzung für diese schwierige Rolle! Die Mazedonierin begann ihre internationale Karriere mit der Königin der Nacht, die sie an ganz große Häusern wie der Met, der Wiener Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper München und an der Deutschen Oper Berlin sang. Sie war in Bayreuth auch der Waldvogel in der Castorf-Inszenierung des „Ring“. Diese Protagonisten absolvierten bei dieser Premiere ihre Rollendebuts, wie auch die meisten der kleineren Rollen.
Der 2012 in Bayreuth als Fliegender Holländer eingesprungene Südkoreaner Samuel Youn dokumentierte als Prometheus zwar die Kraft seines Bassbaritons, fand aber nicht zu einer überzeugenden Linienführung im Gesang, sodass hier und da auch ein Forcieren zu hören war. Wolfgang Stefan Schwaiger gab nicht zuletzt mit seiner enormen Größe ein interessantes Rollenportrait des Wiedehopf und konnte auch stimmlich überzeugen. Lucas Singer und Sung Jun Cho als Adler und Stimme des Zeus einerseits sowie Cho als Rabe andererseits ließen ihre dunklen Bassfarben hören. Anna Malesza-Kutny war ein agiler und erfrischender Zaunschlüpfer. Auch die vielen Nebenrollen, alle natürlich Vögel, waren ansprechend besetzt.
Die Partitur der „Vögel“ liegt – durchaus noch in der spätromantischen Tradition Richard Wagners, obwohl der Übergang zur Atonalität damals schon überschritten war, wie Gabriel Feltz im Interview unterstreicht. Die Musik ist bisweilen impressionistisch schillernd und tiefgründig wie Claude Debussy. In der Szene zwischen Hoffegut und der Nachtigall blüht sie in ihrer Lyrik regelrecht auf. Dann wieder gibt es ein hochdramatisches Stück mit unorthodoxen Taktwechseln und ungewöhnlichen Instrumentationsideen beim Gewitter des Zeus wie in Berlioz’ Symphonie Fantastique, schwierig gerade für die Streicher, die hier in Köln auch nicht immer ausreichend zu hören waren. Dieser Part ließe sich in etwa mit der Schwarzen Messe in Korngolds „Die Tote Stadt“ vergleichen. Feltz verstand das Gürzenich-Orchester Köln mit sicherer Hand durch die facettenreiche und gelegentlich an die Grenzen der Tonalität kommende Partitur zu führen und brachte die Sänger behutsam zu ihrer Wirkung. Der von Rustam Samedov bestens einstudierte Chor der Oper Köln war ständig gefordert und hatte seinen ganz großem Moment mit der Oratorien-artigen Ode an die Götter nach dem Gewitter des Zeus. Das war sicher einer der Höhepunkte des Abends.
Walter Braunfels galt in der Zeit der Weimarer Republik als einer der wichtigsten Opernkomponisten und prägte das Musikleben der Stadt Köln in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend. Umso löblicher, dass Intendanten Birgit Meyer nun 101 Jahre nach der Uraufführung in München „Die Vögel“ wieder zur Aufführung brachte. 1933 wurden die Werke von Braunfels mit Aufführungsverbot belegt. Konrad Adenauer rehabilitierte ihn später, aber dann sorgte auch die Darmstädter Schule dafür, dass seine Werke in Vergessenheit gerieten. Das sollte langsam ein Ende finden. Meines Erachtens stehen „Die Vögel“ der „Toten Stadt“ von Wolfgang Korngold sowohl musikalisch wie szenisch in nichts nach, auch Zemlinsky und Schreker nicht. Größere Häuser sollten nun wieder Braunfels spielen. Man kann ja mit „Die Vögel“ anfangen.
Bilder: Paul Leclaire
Klaus Billand/21.12.2021