Aufführung am 06.04.2019
Erstaunlich, wie manche Werke immer wieder um ihre Anerkennung kämpfen müssen. „Lady Macbeth des Mzensker Landkreises“ war bei ihrer Uraufführung 1934 in Leningrad ein großer Erfolg für den gerade 28-jährigen Komponisten und wurde in weniger als zwei Jahren an die 200-mal in der Sowjetunion gespielt, sogar auch – was kaum bekannt ist – 1935 in Cleveland in den USA. Doch 1936 sah Stalin sich eine Vorstellung an und war so empört, dass das „obszöne Werk“ verboten wurde und Schostakowitsch danach keine Opern mehr komponieren durfte. Er musste seine „Lady“ lang und mühselig überarbeiten bis sie 1963 endlich in einer gesäuberten Fassung als „Katerina Ismailowa“ in Moskau aufgeführt werden durfte. 1978 nahm Mstilaw Rostropowitsch bei seiner Flucht in den Westen eine Partitur mit und dirigierte die erste Platteneinspielung mit Galina Wischneswskaja und Nicolai Gedda. Sobald wie möglich gab es schon 1980 eine erste Inszenierung in Wuppertal, worauf viele andere im deutschsprachigen Gebiet folgten (oft auf Deutsch). In Frankreich ist die Werkrezeption viel langsamer: Nancy erst 1989 und Toulouse 1991. Eigentlich sollte „Lady Macbeth von Mzensk“ 1989 die Bastille-Oper eröffnen, als Zeichen dafür, dass man in dem neuen Haus hauptsächlich Werke des 20. und 21. Jahrhunderts spielen wolle. Doch aus politischen Gründen wurde es eine französische Oper, „Les Troyens“ von Berlioz. Die Erstaufführung von „Lady Macbeth“ an der Pariser Oper fand deswegen erst 1992 statt, was im Nachhinein eine große Chance war, denn es war die erste einwandfrei gelungene Produktion der Bastille – eben die erste die unter normalen Bedingungen vorbereitet und geprobt worden war.
Die tonangebende Zeitung „Le Monde“ lobte das endlich einmal gut spielende Orchester (damals in einem desolaten Zustand) und die endlich einmal richtig funktionierende Bühnenmaschinerie – die als „die beste auf der ganzen Welt“ angekündigt worden war und drei Jahre lang nur durch Pannen auffiel. Doch das war nur ein Drittel des Artikels, zwei Drittel wurden der Frage gewidmet, ob dieses Werk nun diese ganze Mühe wert sei. Es sei weder Fisch noch Fleisch, „weder ein schlüssiges psychologisches Drama noch ein gelungenes ideologisches Plädoyer“ (so „Le Monde“). Und damit verschwand die „Lady“ wieder von den französischen Opernspielplänen. Als Gerard Mortier 2006 sie wieder ansetzen wollte, war die wunderbare Produktion von Regisseur André Engel und Bühnenbildner Nicky Riety schon verschrottet, auch weil man sich inzwischen darauf besonnen hatte, dass solch riesige Bühnenbilder total ungeeignet waren für ein Haus, das 365 Vorstellungen im Jahr geben sollte. Mortier übernahm also eine Produktion aus Amsterdam von Martin Kusej, der das Werk völlig anders anging. Bei André Engel war das überkuppelnde Thema „Russland“ gewesen: weite Landschaften, in der die einsame Katerina Ismailowa verloren umherirrte, sowie die Arbeiter in der riesigen Kolchose und die Polizisten in ihrer überdimensionierten Kaserne. Kusej baute einen Eisen- und Glaskäfig, indem die Protagonisten meist in billiger Unterwäsche wie Labormäuse durch Polizisten mit Hunden eingesperrt wurden. Nun ist Krzystof Warlikowski an der Reihe, mit seiner üblichen Vorliebe für gekachelte Waschräume.
Doch was er darin inszeniert, ist vollkommen anders als seine Vorgänger. Warlikowski, der in Paris und Frankreich zur Zeit als einer der tonangebenden Regisseure gilt – ihm wurde auch vor anderthalb Jahren der große „Don Carlos“ mit Jonas Kaufmann und Elina Garanca anvertraut – hat als (Theater-)Regisseur eine Faszination für gespaltene Charaktere und hysterische Frauen. Wir waren wenig überzeugt von seinen ersten Opernarbeiten – er debütierte als Opernregisseur in Paris – doch seine „Voix humaine“ an der Pariser Oper mit Barbara Hannigan war wirklich phänomenal. Zugegeben, Barbara Hannigan ist eine Ausnahmekünstlerin, aber so haben wir bis dato nur einmal eine Sängerin eine Rolle verkörpern sehen (siehe Merker 12/2016). Dies ist Warlikowski nun wieder mit der litauischen Sopranistin Ausrinè Stundytè gelungen, die die Rolle schon in Lyon mit Dimitri Tcherniakov und in Antwerpen mit Calixto Bieito erarbeitet hat. Sie spielt und singt nicht Katerina Ismailowa, sie verkörpert sie mit einer solchen Intensität, dass man auch noch in Reihe 20 des Parketts in einem Saal mit 2700 Zuschauern das Gefühl bekommt, dass man ihre Gedanken lesen kann. Phänomenal! Das ganze Werk scheint sich in ihrem Kopf abzuspielen, den man immer wieder riesengroß auf Videoschirmen sieht, auch in Unterwasseraufnahmen – denn die Oper beginnt mit einem Traum Katerinas und endet mit ihrem Ertrinken.
Die schon beinahe sprichwörtlich weiß gekachelten kalten Räume von Ausstatterin Malgorzata Szczesniak sind dieses Mal ein großes Schlachthaus mit vielen Fleischhaken, an denen tote Schweine und auch die Leiche des durch Katarina und Sergei ermordeten Sinowi Ismailow baumeln. Aus den Landarbeitern wurden Schlachter mit blutbefleckten Messern und Schürzen – was der Vergewaltigungs-Szene von Katerinas Freundin (eigentlich Köchin) Aksinja noch eine zusätzliche Dimension gibt. Das überkuppelnde Thema ist bei Warlikowski die sexuelle Not aller Protagonisten, die wir noch nie in einer solchen Eindeutigkeit in diesem Werk inszeniert gesehen haben. Darüber lässt sich diskutieren. In der überaus lesenswerten Novelle von Nikolai Leskow (1865) wird Sexualität nur im letzten Kapitel thematisiert, in dem die Sträflinge auf dem langen Marsch nach Sibirien ihre Würde verlieren. Nur nicht Katharina, die bis zuletzt eine vornehme Kaufmannsfrau bleibt, auch wenn sie ihren Mann, Schwiegervater und kleinen Neffen umgebracht hat und das Kind, das sie mit Sergei bekommen hat, bei der Geburt weggegeben hat. Das Libretto erwähnt „rohe und handgreifliche Späße“ und keine Massenvergewaltigung von Aksinja und „Träume“ des 80-jährigen Boris Ismailow, aber keinen Besuch bei einer Prostituierten etc. Doch in der Musik sind die sexuellen Handlungen zwischen Katharina und Sergei unüberhörbar genau beschrieben. Das ist eine Interpretation von Schostakowitsch – genau, was der äußerst prüde Stalin ihm vorgeworfen hat – und er weicht dabei genauso viel von seiner Romanvorlage ab wie Bergs „Wozzeck“ von dem (fragmentarischen) „Woyzeck“ von Büchner.
Wie dem auch sei, das Regiekonzept überzeugt in den ersten beiden und vierten Akt, aber nicht im dritten. Denn Warlikowski und Szczesniak haben das siebte Bild, in dem der alte Landstreicher die Leiche des ermordeten Gatten findet, das achte, in dem sich die Polizisten in ihrer Kaserne langweilen und das neunte, die Hochzeitsgesellschaft, bei der Katharina und Sergei verhaftet werden, zu einer Art Kabarettnummer zusammengeschweißt, in der alles auf einmal passiert und auch noch Akrobaten auftauchen mit einer schwarzen Polizistin, die einen Josephine-Baker-Striptease vollführt. Das gelang weder szenisch noch musikalisch – es gab anscheinend einige Striche – und brachte den Abend aus dem Lot. Doch vor dem vierten und letzten Akt – vor dem es meistens eine Pause gibt – spielte das Orchester eine durch Rudolf Barshai orchestrierte Fassung des Achten Quartetts von Schostakowitsch. Das war eine neue und auch musikalisch vertretbare „Wanderung nach Sibirien“, die mit dem wunderbaren Gesang des alten Zwangsarbeiters beginnt, mit dem die Oper auch ausklingt.
Es wurde nicht nur auf sehr hohem Niveau gespielt – beinahe alle Darsteller verkörperten ihre Rollen – sondern auch musiziert. Ein großes Lob für das ganze Team und die 20 Solisten. Ausrinè Stundytè war eine epochale, rollenprägende Katerina Ismailowa, vielleicht an diesem Premierenabend etwas mehr durch ihr intensives Spiel als durch ihren Gesang. Wir hatten uns manche Passagen vielleicht noch etwas lyrischer gewünscht, mit etwas mehr Projektion ihrer schönen Stimme in den großen Saal. Aber es könnte gut sein, dass der Regisseur und Dirigent dies gerade nicht wollten und man kann dies sowieso einer Sängerin nicht anlasten, die an der akustisch schwierigen Bastille debütiert (so etwas korrigiert sich oft im Laufe der Vorstellungen). Sofija Petrovic hatte in der sehr aufgewerteten Rolle von Katerinas Freundin und Double Aksinja überhaupt kein Problem mit dem Saal, den sie inzwischen schon gut kennt. Denn sie war 2016-2018 ein „rising star“ des Opernstudios („Atelier Lyrique“) und steht mit ihrem warm timbrierten Sopran am Anfang einer großen Karriere. Pavel Cernoch wirkte etwas eindimensional als Sergei neben der faszinierend komplizierteren Katerina Ismailowa von Ausrinè Stundytè. Aber das lag auch an dem Regiekonzept, das die vielschichtige Figur reduzierte zu einem einfältigen „Beau“ mit einem knackigen Hintern, den wir vielleicht ein bisschen zu oft – mit und ohne Unterhose – zu sehen bekamen. Dmitry Ulyanow war ein wohltönender Boris Ismailow, dem John Daszak als Sohn Sinowi Ismailow genauso wohltönend antworten konnte. Wolfgang Ablinger-Sperhackes Arie als alter Landstreicher ging leider etwas unter im Tohuwabohu des dritten Aktes, aber Oksana Volkova brillierte im vierten Akt als Sonjetka, die letzte Bettgefährtin Sergeis. Der Abend klang aus mit dem Gesang des alten Zwangsarbeiters, ganz wunderbar gesungen von Alexander Tsymbalyuk (purer Luxus, denn oft wird die kleine Rolle durch Boris Ismailow gesungen). Last but not least ein großes Lob für den Sprachcoach Liuba Orfenova, denn alle sangen ein perfektes Russisch, auch der Chor der Oper, und das macht wirklich etwas aus!
Dass man dies alles so genau hören, miterleben und mitfühlen konnte, ist der Verdienst von Ingo Metzmacher, den man als herausragenden Dirigenten der Opern des 20. und 21. Jhds nicht mehr vorzustellen braucht (er dirigierte die „Lady“ vor zwei Jahren an der Wiener Staatsoper und auch unlängst die Uraufführung der „Weiden“). Selten bis nie haben wir das Orchester der Oper so glasklar spielen gehört, auch die Blechbläser aus dem Saal (sowie in der Partitur vorgegeben), die öfters die Achilles-Ferse dieses Opernorchesters sind. Im Einklang mit der Regie spannte Metzmacher keine lyrischen, romantischen Bögen („russische Seele und Landschaft“), sondern sezierte messerscharf die Partitur, die wir noch nie so transparent gehört haben. Dass der dritte Akt im Gegensatz dazu abdriftete, lag nicht nur an der Regie und einigen Strichen (?), sondern auch an der Partitur selbst, da Schostakowitsch diesen Akt als ein „Scherzo“ umschrieb, während die Handlung überhaupt nicht scherzhaft ist. Alles in Allem ein sehr gelungener Abend und ein einstimmiger Premieren-Applaus – an der Pariser Oper eine Seltenheit! Nun sind wir gespannt, wie der nächste Regisseur und Dirigent in Paris diese vielschichtige Oper interpretieren werden. Dass sie nun einen festen Platz in den Spielplänen der Pariser Oper haben wird, ist nun endlich über jeden Zweifel erhaben. Waldemar Kamer
Waldemar Kamer 9.4.2019
Bilder (c) Bernd Ulig