Paris: „Lohengrin“, Richard Wagner

Auftakt der neuen Spielzeit 23/24 mit Piotr Beczala als Lohengrin, in einer Regietheater-Inszenierung von Kirill Serebrennikov, an der sich die deutsch-französischen Meinungen (wieder) spalten und die für eine interessante Grundsatzdebatte sorgt.

Die „Gralserzählung“ vor Leichensäcken in einem Militärhospital an der Front. Obwohl als undisponiert angesagt, überstrahlte Piotr Beczala als epochaler Lohengrin dies alles mit einer absolut perfekten Technik.
© Charles Duprat / Opéra national de Paris

Ein viel beachteter Auftakt dieser neuen Spielzeit mit lauten Diskussionen im Saal und in den Medien. Darüber freuen wir uns erst einmal, denn letztes Jahr schrieben wir um diese Zeit, dass wir hofften, dass die Pariser Oper nach den Krisenjahren endlich wieder in ruhigeres Fahrwasser kommt. Dies tritt nun ein und diese Spielzeit gibt es 8 neue Produktionen und 12 Wieder-Aufnahmen (letztes Jahr waren es 6 und 11) – ein deutliches Zeichen, dass die Oper nun aus den roten Zahlen kommt. Das Defizit scheint nur noch 5 Millionen € zu betragen (vor ein paar Jahren waren es noch 80 M €!) und Streiks gab es bedeutend weniger (eigentlich nur das Ballett). In der Direktionsetage wurde wieder mit den Türen geschmissen und der Musikdirektor Gustavo Dudamel ging mitten in seiner zweiten Spielzeit – wieder eine neue Herausforderung, da er viele Projekte dieser Saison (mit)geplant hatte und zum Auftakt diesen „Lohengrin“ dirigieren sollte. Ein Nachfolger steht noch nicht in Aussicht, denn nun will man sich wirklich Zeit nehmen, um Jemanden mit dem guten Profil zu finden (was bei Dudamel als hauptsächlich Konzert-Dirigent offenbar nicht der Fall war). So werden für alle seine Projekte jetzt verschiedene Ersatzdirigenten gesucht und der Brite Alexander Soddy, von 2016-2022 Musikdirektor in Mannheim, der jetzt für „Lohengrin“ einsprang, ließ in dieser Hinsicht keine Wünsche offen, so wie die fantastische Sänger-Besetzung. Die Inszenierung dagegen fachte wieder ganz grundsätzliche Diskussionen an, genau wie bei der „ursprünglichen Carmen“ in Rouen (über die wir gerade berichtet haben). Interessante Fragen und vollkommen verschiedene Antworten!

Aktionismus auf der Bühne: Elsa (Johanni van Oostrum in der Mitte, rechts durch eine Tänzerin gedoubelt) sucht ihren Bruder Gottfried (Foto oben, bevor er „in den Krieg zog“) und trifft auf Ortrud und Friedrich von Telramund (Nina Stemme bei der Premiere und Wolfgang Koch, nun „Direktoren einer psychiatrischen Klinik“). 
© Charles Duprat / Opéra national de Paris

Den russischen Regisseur Kirill Serebrennikov (der jetzt in Berlin lebt) braucht man wohl nicht mehr vorzustellen. Er ist in die Operngeschichte eingegangen als der erste Regisseur, der von seinem Schreibtisch aus – bei Hausarrest in Moskau – mehrere Inszenierungen an großen Opernhäusern betreut hat, von „Nabucco“ in Hamburg 2019 bis zu „Parsifal“ in Wien 2021. Da das „Lohengrin“-Angebot ungefähr gleichzeitig kam, hat er beide Werke wie ein „Gral-Dyptichon“ inszeniert (aus dem noch ein „Tryptichon“ werden soll). In Wien spielte die Handlung in einem Gefängnis, in Paris in einem (psychiatrischen) Krankenhaus an einer Kriegsfront. Parsifal wurde durch einen Schauspieler gedoubelt, hier bekam Elsa gleich zwei Tänzerinnen zur Seite etc. Doch der allgemeine Eindruck ist in Paris viel düsterer und bedrückender: bei „Parsifal“ gab es zumindest ein Happy End, bei „Lohengrin“ nicht. Nun lautet das alles-übergreifende-Thema „Krieg“ und wird die Geschichte aus der Elsa-Perspektive erzählt, eine „schwer traumatisierte Frau“, die vollkommen „geisteskrank“ und „schizophren“ in Scheinwelten entflieht und die ganze Lohengrin-Geschichte nur „träumt“ (so Serebrennikov). Dementsprechend haben er und sein Dramaturg die Inhaltsangabe der Oper und die Personenliste im Programmheft vollkommen umgeschrieben: der erste Akt heißt nun „das Delirium“, der zweite „die Realität“ und der dritte „der Krieg“. Lohengrin mutiert zur „Vision von Elsa und ihr Beschützer“, Ortrud zum „Psychiater und Direktorin einer psychiatrischen Klinik“, dem ihr Gatte Friedrich von Telramund als „Militärpsychiater“ beisteht. Leider wird dies alles auf der Bühne nicht oder nur kaum verständlich, wenn man nicht erst das Programm-Heft gelesen hat (wozu später mehr).

Das aus dieser bedrückenden Regie doch noch ein erwähnenswerter Opernabend wurde, lag an der hervorragenden musikalischen Umsetzung: Alexander Soddy dirigierte ein Orchestre de l’Opéra de Paris in Hochform und der wieder exzellent durch Ching-Lien Wu einstudierte Chor der Oper sang einwandfrei, obwohl er szenisch meist nur ein deprimierender Haufen am Rande blieb. Obwohl als undisponiert angesagt, überstrahlte Piotr Beczala als epochaler Lohengrin alles und seine „Gralserzählung“ war der musikalische Höhepunkt des Abends. Vielleicht gerade weil der Sänger mit seiner Stimme kämpfen musste, die oft erst nur langsam „ansprang“, war die Erzählung umso persönlicher und unsere Bewunderung für seine absolut perfekte Technik destso größer. Johanni van Oostrum konnte ihm als Elsa von Brabant stimmlich nicht ganz das Wasser reichen, aber sie debütierte an der Bastille und ihre Rollengestaltung war berührend intensiv. Als Ortrud wurde Nina Stemme angesagt, die anscheinend kurz vor der Vorstellung absagen musste (sie stand noch auf dem Abend-Theater-Zettel). So sprang Ekaterina Gubanova ein – die auch für die nächsten Vorstellungen geplant war – und tat dies absolut souverän. Wolfgang Koch singt den Friedrich von Telramund schon seit vielen Jahren und wir bewunderten, wie gut er dieses tut, obwohl er in dieser Inszenierung nur ein Bein hat (beinahe alle sind irgendwie kriegsverletzt) und – entgegen dem Libretto von Wagner – mit seiner Frau als „Pazifist“ auftreten soll. Ähnliche Bewunderung für Kwangchul Youn und Shenyang als einwandfreie Heinrich der Vogler und Heerrufer des Königs. Über die musikalische Qualität waren/sind sich alle einig und für sie gab/gibt es viel. Doch bei der Premiere wurde das Regie-Team mit einem Buh-Orkan empfangen, während manche Besucher sogar aufstanden für besonders lang anhaltenden Beifall. Und das waren anscheinend hauptsächlich ausländische Besucher – was ganz konkret zeigt, wie verschieden die Auffassungen zur Regie sind.

Live-Video: Elsa (Johanni van Oostrum links) blickt in den Spiegel während Ortrud und ihr Mann auf Rache sinnen (Nina Stemme bei der Premiere und Wolfgang Koch). Aber weil sie eigentlich „Pazifisten“ sind, wurde ihr Video umgedreht (links oben)? © Charles Duprat / Opéra national de Paris

Die deutschsprachigen Rezensenten waren positiv bis hin zu begeistert mit dem Tenor: „Mit niederschmetternder Botschaft zeigt der Regisseur, was aus dieser Oper noch alles hervorgebracht werden kann.“ und „Ein Großmeister der Regie hat neue Ebenen in ein Repertoirestück eingezogen, es aktualisiert, verschärft, heutig gedeutet, dabei alles Bühnenmögliche bemüht.“ Doch wegen der starken Ablehnung der Regie fügten sie auch noch ein paar Grundsatzfragen ein – was lobenswert und eher selten ist. So leitete Manuel Brug seine Rezension in Die Welt (in der auch die „Carmen“ aus Rouen besprach) mit folgender Feststellung ein: „Zwei krasse Opernregieschulen prallten jetzt in Frankreich direkt und unversöhnlich aufeinander“. Die deutsche „Opernschule“ meint: „Natürlich erleben wir in diesen Tagen ein Wiederaufleben der ewigen Debatte über die Rolle des Regisseurs bei der Aufführung von Opern und den Respekt, der dem Komponisten in seiner Herangehensweise entgegenbracht werden sollte. Unbestreitbar trägt die neue Pariser Inszenierung von Lohengrin dazu bei, die Debatte zwischen den beiden Lagern anzuheizen. (…) Sicherlich können wir sagen, dass der Bezug zum Krieg nicht sehr innovativ ist, weil wir heutzutage besonders in den Opern-Inszenierungen viel in kriegerischen Situationen baden! Aber ob wir wollen oder nicht: Der Krieg ist da! (…) Also? … Lassen wir uns von einer Reise in Krieg und Wahnsinn überwältigen… oder nicht? Dies ist die grundlegende Frage für das Publikum, die öffentliche Meinung und die Opéra National de Paris.“

Die französische „Opernschule“ (um diesen Begriff jetzt einfach mal aufzunehmen) stellte diese „grundlegende Frage“ ganz anders. Denn das hiesige Publikum und die Rezensenten sind erst einmal nicht an solch radikales Regietheater gewohnt. Dies ist die erste Inszenierung von Serebrennikov in Paris und Frankreich, wo meines Wissens die Vorreiter des „deutschen Regietheaters“ Hans Neuenfels und Peter Konwitschny nie eingeladen wurden – aus gutem Grund… Denn die französischen Reaktionen zur Regie waren/sind einhellig verhalten bis hin zu einer prinzipiellen Ablehnung. Der meist erste Vorwurf ist musikalisch: diese Art von Inszenierung mit oft unverständlicher Daueraktion, verstärkt durch Filme (im Prolog noch sehr poetisch) und dazu „Live-Video“ auf der Bühne (Die Welt: „Alles ist rigoros bebildert“) stört das Zuhören („distrait de la musique“, „pollue l’écoute“ etc). Oft als erster Satz: „Was ist der Sinn von Aufführungen, bei denen man sich abmüht zu verstehen, was der Regisseur ausdrücken will? (Was man erst verstehen kann, nachdem man das Programmheft gelesen hat.)“. (…) „Letztendlich überlagern sich zwei parallele Erzählungen, die des ursprünglichen Librettos und die der Inszenierung, oder besser gesagt, sie stören sich gegenseitig, so dass der unwissende Zuschauer Mühe hat, sowohl der einen als auch der anderen zu folgen.“ (…) „Dieses früher einmal originelle Konzept, sich fast vollständig vom Libretto zu lösen und eine andere Geschichte als die des Werkes zu erzählen, führt bei einem Teil des Publikums offensichtlich zu einem Überdruss. Da es sich leicht auf jedes beliebige Werk anwenden lässt: es fehlt nun nicht mehr an Beispielen im Repertoire der Pariser Oper.“ Mit als Fazit der französischen Presse: „Krankenhausgänge und Soldaten in Uniform haben unsere Opernbühnen nun schon zu lange in Beschlag genommen.“.

Das scheint mir der springende Punkt. Es gibt offensichtlich eine klare Grenze, was man einem französischen Publikum an Regietheater zumuten kann und was nicht. Und das liegt meiner Meinung nach an der Umsetzung und nicht ganz prinzipiell am Ansatz. Denn „Lohengrin“ haben wir an der Bastille Oper schon als „Kriegsdrama“ in einem Bunker erlebt, in der Inszenierung von Robert Carsen, die ab 1996 immerhin zehn Jahre lang erfolgreich gespielt wurde. (Dort gab es noch keine Videos und Dauer-Aktivismus auf der Bühne.) 2017 erschien die Inszenierung von Claus Guth (für die Scala 2012), mit ebenfalls einer sehr unübliche Rollengestaltung: alles wurde als „Traum von Lohengrin“ erzählt. Jonas Kaufmann erschien (auch) nicht als kühner Ritter, in glänzender Rüstung, in einem goldenen Nachen, der durch einen Schwan gezogen wird etc., sondern lag als ein wimmernder Knabe auf der Erde, barfüßig, schutzsuchend und sang seinen ersten Satz, „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan“ (auch) mit dem Rücken zum Publikum. Er spielte als Weltfremder mit einer Schwanenfeder und bemerkte nicht einmal, dass Andere ihm zuhören – wie jetzt Elsa… Doch da gab es keinen Buh-Orkan für das Regie-Team. Wahrscheinlich, weil die Regie der Musik Raum ließ, das Bühnenbild nicht unbedingt schön, aber zumindest nicht so deprimierend hässlich war wie jetzt (Ausstattung: auch Serebrennikov) und es auch noch stilvolle historische Kostüme gab. Denn Ästhetik in der Oper ist für Franzosen ein ganz wesentlicher Punkt (siehe die Debatte um „Carmen“) und mehrere Zeitungen stellten ganz offen die Frage, wer denn heute noch bereit sei 220 € für einen Parterre-Platz zu zahlen, um dann den ganzen Abend Krieg, Blut und wirkliche Verwundete zu sehen? (Bei den Statisten gab es einige Amputierte, deren Verstümmelungen uns schonungslos vorgeführt wurden.) Dementsprechend waren/sind die Vorstellungen dieses „Lohengrins“ nicht ausverkauft – trotz Starbesetzung, Dauer-Werbung in der Metro und intensiver Medienpräsenz.

Gang ins Münster: Elsa (Johanni van Oostrum vorne im Krankenbett) kämpft innerlich mit dem Wort „Nie“ (Video oben). Hinter ihr links die kampfbereiten Soldaten, in der Mitte die Verwundeten und rechts die Toten (Chor der Oper und Statisten). © Charles Duprat / Opéra national de Paris

Diese Grundsatz- und Auslastungsdebatte wird im Laufe der Spielzeit neuen Nährstoff bekommen, denn bei den nächsten Neuproduktionen werden Regietheater-Ansätze wieder sehr präsent sein. Auch bei den seltenen gespielten französischen Opern des 19. Jahrhunderts, die nun lobensweise wieder auf die Bühne kommen werden: „La Vestale“ von Spontini (1807 an der Pariser Oper uraufgeführt und dort seit 150 Jahren nicht mehr gespielt) kommt unter dem Motto „Militarismus und religiöser Fanatismus“ und die Handlung von „Médée“ von Jean-Marc Charpentier (1693 an der Pariser Oper uraufgeführt und seitdem nicht mehr gespielt) wird in den Zweiten Weltkrieg verlegt. „Beatrice di Tenda“ von Bellini (1833) wird zum ersten Mal an der Oper gespielt in einer Art Gefängnis, das „die Bewachung während einer Diktatur“ symbolisieren soll. Dagegen wird der „Don Quichotte“ von Massenet (seit 20 Jahren nicht mehr an der Bastille gespielt) hoffentlich auch „Poesie ausstrahlen“ (wir freuen uns schon auf die Rollendebüts (?) von Ildar Abdrazakov und Marianne Crebassa). Die jungen Sänger des Atelier Lyrique der Oper werden sich sicher in „Street Scene“ von Kurt Weill amüsieren (in Bobigny, außerhalb von Paris) und es wird auch wieder eine aktuelle Oper geben: „The Exterminating Angel“ von Thomas Adès, 2016 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt und nun in einer neuen Inszenierung von Calixto Bieto. Doch dies wird alles erst ab Februar sein, bis dahin gibt es nur Wieder-Aufnahmen, meist von Inszenierungen, die wir schon rezensiert haben. Aber zu manchen werden wir gerne zurückkehren, so wie zur „Adriana Lecouvreur“ von Cilea in der stilvollen Inszenierung von David Mc Viar (ursprünglich in London für Angela Gheorghiou, seitdem auch in Wien, nun in Paris mit Anna Netrebko und Anna Pirozzi). Die französische Presse wird jubeln, die deutsche wahrscheinlich nicht – es wird also wieder viel über die Pariser Oper zu berichten geben!

Waldemar Kamer, 17. Oktober 2023


Lohengrin
Richard Wagner

Opéra National de Paris (Bastille)

14 Oktober 2023

Inszenierung: Kirill Serebrennikov
Dirigat: Alexander Soddy
Orchestre et Choeurs de l’Opéra de Paris

Live-Übertragung dort am 24. Oktober, auf Medici.Tv ab 1. November