Eines kann man Richard Jones, dem Regisseur des neuen Pariser „Parsifal“ an der Opéra de Paris Bastille nicht vorwerfen, auch wenn sonst einiges „ungewohnt“ erscheint: Wenn es ernst wird, hält er sich offenbar ganz genau an Richard Wagners Text. Wenn Parsifal nämlich zu seinem großen Monolog im 2. Aufzug ansetzt, … „bricht er“, „wie um einen zerreißenden Schmerz zu bewältigen“ aus: „Amfortas! – – Die Wunde! – Die Wunde! – Die Wunde! – Sie brennt in meinem Herzen. – …“ muss man dabei sofort an das Blutbad denken, welches der „reine Tor“ im 1. Aufzug nach Amfortas‘ Gralserhebung erleben musste. Der traurige Gralskönig bricht nach der Zeremonie kraftlos zusammen, fällt gar vom Tisch, auf den er steigen und die goldene, allerdings leere Schale wie die New Yorker Freiheitsstatue ihre Fackel in die Höhe recken musste. Er bleibt in einer Blutlache liegen, die wie eine Quelle aus seiner Wunde im wahrsten Sinne des Wortes „fließt“. Auch dieses steht so bei Wagner! So wird Parsifals schmerzerfüllter und hochemotionaler Ausbruch nur zu erklärlich und nachvollziehbar. Peter Mattei, den ich in der Rolle schon vor Jahren in Lyoner „Parsifal“ hören konnte, welcher dann ja an die Met ging, ist ein exzellenter Amfortas mit einem herrlich kantablen Heldenbariton und einer unglaublich intensiven und zutiefst leidenden Darstellung, die er mittlerweile total verinnerlicht hat. Mattei war einer der Besten des Abends.
Richard Jones konfrontiert uns in den Bühnenbildern und mit den nicht ganz geschmacksicheren Kostümen von Ultz und dem nicht immer optimal changierenden Lichtdesign von Mimi Jordan Sherin mit einer Sekte, deren höchstes und wahrscheinlich auf Ewigkeit zu tradierendes Gut die Dogmen in einem dicken blauen Buch zu sein scheinen. Die mehrsprachigen Bände füllen lückenlos die Bücherregale in der modern möblierten und mit einer völlig entbehrlichen Zentrifuge ausgestatteten Gralsküche neben den Rucksäcken eines jeden Gralsritters. Über dem Herd, auf dem riesige dampfende Kochtöpfe stehen, – man denkt sofort an die bald zu servierende Gemeinschaftssuppe, aber es kommt viel schlimmer – prangt ein schlechtes Ölgemälde des offenbar verstorbenen Sektenführers. Bezeichnend für den Machtanspruch der Sekte hat er eine Hand auf der Weltkugel. Von ihm sehen wir auch noch eine goldene Büste im Breker-Design auf Podest mit Wasserbecken links von der Gralsküche. (Titurel ist es aber nicht, denn der liegt im Nebenzimmer über jenem von Amfortas reglos in seinem Bett, betreut von einem Pfleger). Um diese Büste sitzen bereits während des Vorspiels die Knappen züchtig und regungslos in ihren Büchern lesend herum. Erst als Gurnemanz kommt, dürfen sie sich rühren. Günther Groissböck singt die Riesenpartie mit seinem wundervollen, eher hellen Bassbariton bei bester Diktion und Top-Höhen. Hier ist bereits überdeutlich der Wotan zu hören… Ein begnadeter Sänger mit hoher Intelligenz, der deshalb auch die Rolle bestens zu spielen weiß. Gianluca Zampieri, der immerhin in Erl den Siegfried und Tristan singt, sowie Luke Stoker sind zwei gute Gralsritter, die sich in ihrem olivgrünen Ornat rangmäßig von den weiß gekleideten Knappen abheben.
Ganz offenbar herrschen in dieser Sekte „Zucht und Ordnung“. Gurnemanz kommt aus dem Hinterzimmer und mahnt zur Wachsamkeit. Dabei tun doch eh‘ alle, was hier angesagt ist: Nach gnadenlosen Dogmen leben, die ganz offenbar jedes Fünkchen Mitgefühl mit dem Schicksal anderer im Keim ersticken bzw. gar nicht erst entstehen lassen. Denn nur so ist die grausam anmutende Gleichgültigkeit aller während der Gralserhebungszeremonie zu erklären, die eben mit der Beinahe-Verblutung des Amfortas und dem routineartigen Eintauchen seiner blutigen Bettwäsche in die statt mit Suppe mit kochendem Wasser gefüllten Töpfe zur Reinigung für das nächste Mal endet… Reinigungspersonal, freilich durchaus post-stereotypisch banal wirkend, wischt unterdessen mit einigen Tüchern das Blut vom Boden auf, als wäre eine Blumenvase umgekippt… Titurel tritt fordernd als ein steinalter Mann auf, der meist getragen werden muss und nach der Gralserhebung gerade einmal vier Schritte schafft. Reinhard Hagen singt ihn klangvoll aus dem Off. Daniela Entcheva schließt mit ihrem vollen Mezzo aus der Höhe den 1. Aufzug ab, nach dem übrigens in Paris aufs Heftigste geklatscht wird.
Beim ersten Mal, – nach dem Erklingen ganz natürlicher Glasglocken aus der Ferne – lässt sich Amfortas ja noch den königlichen Hermelinmantel aus seiner Garderobe überziehen. Den wirft er dann aber frustriert von sich, als es in seinem großen ersten Monolog so weit ist. Im 3. Aufzug sieht das alles schon ganz anders aus. Die Gralsgemeinschaft ist ganz den Worten den Gurnemanz entsprechend „führerlos“. Die Knappen, die schon längst nicht mehr alle ihre Bücher haben und ohnehin kaum noch darin lesen, schlagen sich frustriert unter der Büste des Sektenführers. Die Bücherregale sind leer, fast alle Rucksäcke weg. Alle, gerade auch Gurnemanz, haben nun lange Haare. Offenbar hat sich mit Amfortas‘ Weigerung, den Gral noch einmal zu erheben, auch der Hausfriseur davon gemacht, wie einst Gawan. Umso mehr wundert einen nun das schicke Outfit von Gurnemanz, der im 1. Aufzug noch in eher bedürftig wirkender Kleidung auftrat. Immerhin hat er noch seine Bibel. Wie gesagt, die Kostüme sorgten für manche Überraschung, zumal jenes von Parsifal, der sogar noch im 2. Aufzug mit einem roten Pullover und Shorts herum läuft… Banaler ging es nicht mehr – damit würde man nicht einmal als Zuschauer auf einem Golfplatz zugelassen. Dafür zeigt Jones die völlige Verzweiflung des Amfortas wie kaum ein anderer zuvor. Wir sehen ihn unter den führungslosen Gralsrittern im blutbefleckten Trainings-Anzug herumlaufen. Wenn sie ihn entdecken, will er immer wieder ausbrechen und flüchten. Sie lassen ihn aber nicht. Mit der Sturheit unglaublicher Herzlosig- und Grausamkeit zwingen sie den sich gegen sein Schicksal Stemmenden wieder an den Opfertisch – bis endlich Parsifal kommt. Die von José Luis Basso einstudierten Chöre singen stimmstark und sind bestens choreografiert (Lucy Burge). Allein bei den Damen aus dem Off gibt es einige Probleme beim Erreichen aller erforderlichen Töne.
Dazwischen geht Parsifals Verwandlung von statten, denn dass hier wahrlich, wie von Wagner gewünscht, nur noch Mitleid helfen kann, das hat Jones mit seiner dicken Zeichnung der Verrohung des Grals-Kultes offenbar gemacht. Hierin liegt einer der Verdienste der Inszenierung, obwohl an diesem Abend doch wieder klar wurde, dass es ganz ohne Mystik in Wagners „Parsifal“ nicht geht. Und davon wollte der Regisseur offensichtlich gar nichts wissen. Klingsor klont sexbesessene Jungfrauen, die er aus Maiskolbenblüten heranzüchtet – eine schwimmt gerade halbentwickelt in einer Art Aquarium, noch an der Nabelschnur. Bald wird sie wie die anderen in Maiskolbendolden mit übertrieben gestalteten äußeren Geschlechtsmerkmalen herum zappeln, um Parsifal einzufangen.
Bis dahin braucht es aber lange, denn Klingsor muss auf seinem Maiskolbenbeet ständig für künstliche Befruchtung sorgen. Er wirkt in seinem rosa Trainingsanzug mit Ornat eher wie ein verkommener Dandy denn als gefährlicher Zauberer. Evgeny Nikitin bleibt, was sein heldenbaritonales Potenzial angeht, etwas hinter meinen Erwartungen zurück, spielt die ihm zugewiesene Rolle aber eindringlich. Der Stimme mangelt es bei guter Höhe doch an Volumen und auch Resonanz. Anja Kampe kommt als Kundry zunächst als Barbie-Puppe daher, lässt aber bald das rosa Kleidchen zugunsten eines schwarzen Negligés fallen. Kampe besticht mit einer äußerst intensiven Darstellung der so komplexen Facetten der Rolle und ihrem in der Mittellage etwas dunkel timbrierten Sopran, den sie perfekt führt und intoniert. Ihr „und lach-te!“ ging mit der Höhe und der direkt nachfolgenden Tiefe wahrlich unter die Haut. Auch die so schwierigen „Irre! Irre!“-Rufe kamen perfekt. Sie dürfte eine der besten Kundrys unserer Zeit werden. Andreas Schager schafft es, Kampe auf Augenhöhe zu begegnen, denn er spielt den Mitleid gewinnenden „Helden“ trotz seines banalen Outfits in überzeugender Weise. Auch stimmlich ist der Österreicher dieser und anderen Wagner-Partien gewachsen. Allein, er singt fast immer nur im Forte und einfach zu oft zu laut. Es wäre schade, wenn dieser schönen heldentenoralen Stimme wegen ständiger Überforderung durch zu hohen Kraftaufwand ein allzu kurzes Leben beschieden wäre. Anna Siminska, Katharina Melnikova, Samantha Gossard sowie Tamara Banjesevic, Anna Palimina und Marie-Luise Dressen singen klangschön und engagiert die Zaubermädchen.
Eindrucksvoll und eschatologisch dann der Untergang von Klingsors Zaubergarten: Nachdem Parsifal ihm kraft seines Widerstands gegen die Versuchung den Speer aus der Hand genommen und ihn mit einer Art Machete tödlich aufgeschlitzt hat, kommt der Zaubergarten als Ansammlung verkohlter Skelette auf verwelkten Blüten – „ich sah sie welken…“ – aus dem Dunkel nach vorn – ein starker Einfall!
Der bald in Wien antretende Pariser Musikdirektor Philippe Jordan leitete das Orchestre de l‘Opéra national de Paris und fand wohl nicht zuletzt nach seiner Erfahrung mit diesem Werk in Bayreuth zu einem dezenten, äußerst transparenten und eher lyrischen, ja bisweilen fast kammermusikalischen „Parsifal“-Klang. Hier merkte man viel Liebe zum Detail, was sich allerdings auch etwas auf die Tempi auswirkte. Schon das Vorspiel zum 1. Aufzug wurde von Jordan nahezu zelebriert. In einem Aufsatz im Programmheft legt er dar, dass Wagner mit dem „Parsifal“ kein Drama mehr komponiert habe, sondern eine „musique d‘office“. Ja, er ortet sogar aufgrund der christlichen Symbole wie Gral und Glasglocken eine „silence solenel digne d‘une église“. Es spricht nichts dagegen, den „Parsifal“ so zu musizieren. Aber in diesem Fall waren Expressivität und Aktionismus auf der Bühne so intensiv, dass sie durchaus eine kräftigere musikalische Herangehensweise vertragen hätten, ja diese sogar angebracht gewesen wäre. So kam es bisweilen zu einer sonderbaren Dichotomie zwischen dem, was man auf der Bühne sah und aus dem Graben hörte. Gleichwohl wurden Jordan und sein Orchester vor dem 2. und 3. Aufzug mit großem Auftrittsapplaus bedacht, wie sich auch alle SängerInnen mit leichten Abstrichen bei Nikitin über große Publikumszustimmung freuen konnten.
Spannend ist immer, was dem jeweiligen Regisseur zum Finale des „Parsifal“ einfällt. Parsifal heilt hier die Wunde des Amfortas mit dem Speer. Dieser küsst daraufhin Kundry ein letztes Mal mit größter Begierde, worauf er – wohl entsühnt – stirbt. Da Parsifal keine Anstalten macht, in sein Amt einzutreten, erscheinen die Ritter wieder führungslos. Er zieht stattdessen mit Kundry von dannen, die Ritter alle hinterher. Das scheint Parsifal jedoch nicht mehr zu interessieren. Eines ist jedenfalls klar, wie einst bei Christine Mielitz in Wien: Der Gral hat ausgedient. Wohl auch gut so…
Copyright: Emilie Brouchon
Klaus Billand 20.5.2018