Paris: „Phryné“ konzertant, Camille Saint-Saëns

Vorstellung am 11.6.2022

Ein weiteres unbekanntes Werk zum 100. Todestag des Komponisten, gleichzeitig auch als Erst-Einspielung als Buch-CD beim Palazzetto Bru Zane.

Anne-Catherine Gillet in Hochform als charmante und geistreiche Phryné

Das Jubiläumsjahr zum 100en Todestag von Camille Saint-Saëns (am 16. Dezember 1921 gestorben) ist noch nicht vorüber. So hat das Palazzetto Bru Zane noch eine weitere vollkommen unbekannte Oper von ihm (konzertant) in der Opéra Comique wieder aufgeführt (im Rahmen des 9en Festival Palazzetto Bru Zane Paris). Camille Saint-Saëns ist, wie schon letzten Herbst erwähnt, ein so ein vielseitiger Komponist, dass man ihn schwierig „unter einen Hut“ bringen kann. Sehr begabt (über 300 Werke!), aber vielleicht kein genuiner Opern-Komponist – nur „Samson et Dalila“ hat sich auf den Spielplänen halten können. Deswegen besitzt Saint-Saëns wahrscheinlich den traurigen Rekord an Absagen der Pariser Opernhäuser, die immer neue Ausreden erfanden, um seine Opern nicht auf zu führen. „Samson“ wurde ab 1859 komponiert, 1877 in Weimar uraufgeführt und erst 1892 an der Opéra de Paris gespielt – also nach 33 Jahren! Und wer kennt heute noch seine 12 andere Opern? So ist es sehr zu begrüßen, dass das Palazzetto Bru Zane im Jubiläumsjahr nun drei unbekannte Opern aufgenommen hat und diese mit sehr viel historischem Material (auf Französisch und Englisch) in ihrer Buch-CD-Reihe veröffentlicht hat.

Wir haben schon berichtet über „Le timbre d’argent“ (Die silberne Glocke), ein großformatiges „drame lyrique“ über das kunterbunte Paris der „Bohème“, mit 4 langen Akten, wovon der zweite – wie es sich an der Pariser Oper gehörte – mit großen Chorszenen und einem Schlussballett ausgestattet wurde (Libretto von Jules Barbier und Michel Carré, denselben Librettisten der „Contes d’Hoffmann“ von Offenbach). Die erste Fassung der „Glocke“ aus 1864 galt als unspielbar, sodass Saint-Saëns immer wieder ändern musste, bis 1880 eine 6e Fassung fertig war und 1894 noch eine 7e, 1903 eine 8e und 1913 eine 9e Fassung (!) folgen würden. Ohne Erfolg, „Le timbre d’argent“ ist (quasi) nie gespielt worden. „La princesse jaune“ (Die gelbe Prinzessin), ist dagegen eine kurze „opéra comique“ (also mit gesprochenen Texten), 1872 an der Opéra Comique in Paris uraufgeführt. Aber aus genau dem gegenteiligen Grund kam sie auch nicht ins Repertoire: Die „Glocke“ war zu groß, die „gelbe Prinzessin“ zu klein… Denn Einakter sind ein heute wenig gespieltes Genre, weil sie nicht abendfüllend sind. Und oft sind sie nicht so einfach zu kombinieren wie „Cavalleria rusticana“ von Mascagni + „Pagliacci“ von Leoncavallo oder die drei Einakter von Puccini. Denn „Phryné“ – auch ein Einakter – passt weder vom Thema und auch nicht musikalisch zur „gelben Prinzessin“ und wurde 1893 in der Opéra Comique uraufgeführt, zusammen mit einem anderen (vollkommen vergessen) Einakter des damaligen Repertoires, und dort oft und gerne bis 1950 gespielt – bis dieses ganze Repertoire in Vergessenheit geriet.

Der Erfolg von „Phryné“ im Vergleich zu den anderen Opern von Saint-Saëns ist leicht zu verstehen: es ist eine charmante und sehr Pariserische „opéra comique“, die vollkommen den damaligen Zeitgeist traf. Die Vorlage war – meines Erachtens (bei einer einzigen Vorstellung gab es kein Programmheft) – das berühmte Bild von Jean-Léon Gérôme „Phryné devant l’Aréopage“ aus 1861 (seit 1910 in der Hamburger Kunsthalle). Gérôme war ein sehr angesehener Maler des „Zweiten Kaiserreichs“, dies war mit sein bekanntestes Bild und, vor allem, das meist reproduzierte auf den Kunstdrucken und Kunstpostkarten des einflussreichen Verlegers Adolphe Goupil (der auch sein Schwiegervater war). Gérôme zeigte eine der vielen Legenden um die Hetäre Phryné, die 320 vor Christus durch den Senat in Athen verurteilt werden sollte, weil sie nackt für Künstler posiert hätte und so die guten Sitten der Stadt in Gefahr brächte. Doch kurz vor dem angekündigten Urteil riss ihr Anwalt ihr die Kleider vom Leib und waren die alten Senatoren so entzückt von ihrer Schönheit, dass sie in extremis noch freigesprochen wurde. Das auf den Kunstpostkarten zirkulierende Bild wurde auch noch 30 Jahre später in Paris viel kommentiert – u. A. durch Zola, Maxime Ducamp und Edgar Degas – und ich vermute, dass es solch ein Artikel war, vielleicht mit einer Karikatur („Phryné“ ist das meist karikierte Bild der Zeit zusammen mit Manets „Déjeuner zur l’herbe“), das Camille Saint-Saëns im fernen Algier – wo er sich die letzten 30 Jahre seines Lebens zurückgezogen hatte – zu diesem Sujet veranlasste.

Es könnte eine Novelle von Maupassant sein: der junge Lebemann Nicias, dessen ansehnliches Erbe immer noch durch seinen (ehr)geizigen Onkel Dicéphile verwaltet wird, bittet diesen um einen Vorschuss. Doch daraufhin kündigt der alte Senator an, dass er seinen Neffen wegen Schulden im Gefängnis einsperren lassen will. Gerade als Nicias dies seiner Geliebten Phryné ankündigt, erscheint der alte Mann bei ihr, um sie für ihre schlechten Sitten zu rügen. Doch die Kurtisane lässt sich nicht aus der Fassung bringen, braucht ewig um ihr neues Kleid und Schmuck anzulegen und bittet den Senator ihr dabei zu helfen und ihr eine frische Rose aus dem Garten zu holen. Dicéphile ist so überwältigt durch ihren weiblichen Charme, dass er ihr die Rose hingebungsvoll auf den Knien anbietet. In diesem Augenblick erscheint Nicias mit Phryné schlauer Kammerzofe Lampito (die das Lämpchen hält) und beide drohen in ganz Athen zu erzählen, in welcher Pose man den Senator bei der Kurtisane gesehen hätte – wenn dieser nicht augenblicklich Nicias die Hälfte seines Vermögens gibt. Nicias und Phryné küssen sich und denken darüber nach, wie sie dies Geld nun ausgeben wollen. Der Librettist Lucien Augé de Lassus machte daraus ein Konversationsstück in zwei kurzen Akten, mit Rezitativen in alexandrins, den 7-füssigen Reimen der großen Tragödien von Racine und Corneille. Sicher sehr amüsant für das damalige Publikum, dass diese Tragödien auf der Schule auswendig lernte, aber 1909 bat die Opéra Comique André Messager, die Rezitative neu zu schreiben und zu orchestrieren. Was er sehr feinfühlig im Stile von Saint-Saëns getan hat, so dass die amüsante Geschichte ohne musikalische Unterbrechungen durchplätschern kann. Das Resultat ist eine charmante „Konversationsoper“, ohne Arien oder Finale, nur mit Duos und Ensembles, aus dem der temperamentvolle Dirigent Hervé Niquet mit dem Orchestre National d’Île-de-France (in großer Besetzung) und dem Choeur du Concert Spirituel mehr herausholte, als man bei einer solchen Geschichte denken könnte.

Beim Schlussapplaus: Thomas Dolié (Dicéphile), Cyrille Dubois (Nicias), Anne-Catherine Gillet (Phryné), Camille Tresmontant (Cynalopex), Anaïs Constans (Lampito) und Matthieu Lécroart (Agoragine + Le Héraut) vor dem Orchestre National d’Île-de-France und dem Choeur du Concert Spirituel.

Anne-Catherine Gillet zeigte sich in Hochform als charmante und geistreiche Phryné, unterstützt durch die kecke Lampito von Anaïs Constans. Cyrille Dubois sang die sehr präsente Hauptrolle Nicias, obwohl er sich am Vortag bei der Oper als indisponiert angesagt hatte (doch man konnte für so eine seltene Rolle nicht im letzten Augenblick noch Ersatz finden). So wechselte er bei den höchsten Tönen in Kopfstimme, ohne dass dies einem Laien aufgefallen wäre – eben wie ein Kavalier, der sich mit Eleganz aus jeder Situation zu singen weiß. Thomas Dolié war ein urkomischer (ehr)geizigen Senator Dicéphile, mit Camille Tresmontant als Cynalopex. Ein besonderes Lob für Matthieu Lécroart als Agoragine und Le Héraut, denn wir haben ihn nur zehn Tage zuvor in der Wiederentdeckung von „Hulda“ von César Franck erlebt. So seltene Stücke gleich nacheinander und dann nur für eine Vorstellung, was für eine Arbeit! Aber sie lohnte sich, denn diese einzige Aufführung war ausverkauft – was noch mal beweist, dass es ein wirkliches Interesse für seltene Stücke gibt. Und nun kann man es sich auch auf Platte anhören – bis vielleicht Einakter eines Tages ins Repertoire kommen?

Waldemar Kamer, 17.6.22

Erst-Einspielung als Buch-CD beim Palazzetto Bru Zane mit demselben Dirigenten und (fast) demselben Cast.

Opéra Comique: www.opera-comique.com

Infos & CD-Buch: www.bruzanemediabase.com

Alle Bühnenfotos: © Stéphane Brion