Brice Pauset
Uraufführung einer großen Oper nach „Strafen“ von Kafka – auf Prager Deutsch!
Wir sind nun wirklich im 21. Jahrhundert angelangt. Man sieht es an den vielen Texten des 20. Jahrhunderts, die nun vertont werden. Denn Opernkomponisten scheinen seit quasi Beginn der Opernform eine Vorliebe zu haben für Stoffe, die ungefähr 100 Jahre alt sind. Letztes Beispiel: „Orlando“ nach Virginia Woolf an der Staatsoper im Dezember. Auch wenn die beiden Stücke sich musikalisch (Pauset komponierte für ein großes „Bruckner-Orchester“) und szenisch (in Frankreich hat sich das „Regie-theater“ nicht durchgesetzt) überhaupt nicht vergleichen lassen, ist der Ansatz doch ähnlich. Denn beide Komponisten wählen Texte, die nicht für die Bühne vorgesehen sind, in denen sie offensichtlich Parallelen spüren zu den vielen Identitäts-Spaltungen unserer heutigen Zeit.
Die eindrucksvollste Arie des Abends: Michael Gniffke, der als böser Vater in „Das Urteil“ seinen Sohn Georg (Allen Boxer) grundlos in Grund und Boden verurteilt.
Der französische Komponist Brice Pauset (1965) wählte drei Erzählungen von Franz Kafka: „Das Urteil“ (1913), „Die Verwandlung“ (1916) und „In der Strafkolonie“ (1919), die Kafka in einem Buch bündeln wollte mit dem Titel „Strafen“ (was erst lange nach seinem Tode geschah). Pauset spricht fließend Deutsch, ist seit 2008 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik in Freiburg und in Deutschland viel bekannter als in Frankreich. Er hat ursprünglich auch Philosophie studiert und begründet seinen Ansatz brillant im Programmheft, dass man gerade solche Texte als Oper vertonen sollte, weil man sie so „polyphonisch hören“ und „aus verschiedenen Perspektiven belauschen“ kann. Mit seinem Dramaturgen Stephen Sazio hat er die drei Erzählungen mit großem Fingerspitzengefühl für die Bühne bearbeitet (soweit eben möglich), wobei Kafkas spezifisches „Prager Deutsch“ nicht verloren ging – während andere französische Komponisten Kafka auf Französisch vertont haben, wobei viel verlorenging. Dem beinahe dreistündigen Abend gab er den Titel „Strefn“ („Les châtiments“ in Dijon), denn in allen drei Stücken wird ein junger Mann für etwas „bestraft“, ohne dass er oder wir verstehen warum oder wofür – wie so oft bei Kafka. Pauset wählte die gleiche Orchester-Besetzung wie die 7e Sinfonie von Anton Bruckner und eine ähnliche „Erzählform“ wie Arnold Schönberg, Alban Berg und Franz Strecker. Und schon im ersten Satz des „Urteils“ hören wir irgendwie „Wozzeck“: „Ah! Frieda! Ich habe gerade an meinen Freund, von dem ich habe dir schon erzählen (sic), einen Brief geschrieben.“ (ursprünglich ein Monolog, ein Brief von Georg an seinem russischen Freund, nun umgeschrieben als Dialog von Georg mit seiner Schwester Frieda).
Der darstellerische Höhepunkt des Abends: Emma Posman sieht als liebe Schwester Grete in der „Verwandlung“ wie ihr Bruder Gregor (Allen Boxer) als Käfer herumklettert
Mit absolut ähnlichem Fingerspitzengefühl für Text und Musik haben David Lescot und sein Team die drei Stücke inszeniert. Alwyne De Dardel baute drei Bühnenbilder, die uns in das Prag von Kafka versetzten, in den leicht überzeichneten historischen Kostümen von Mariane Delayre – denn der Hauptfokus lag auf Kafkas Galgenhumor (ein Wort, das es bezeichnenderweise nicht auf Französisch gibt). So gab es viele Verweise auf die expressionistischen Stummfilme (die Kafka – so Pauset – inspiriert haben) und ähnelte die furchtbare Foltermaschine der „Strafkolonie“ den riesigen Rädern von „Modern Times“, in denen Charlie Chaplin verschluckt wird. Alles gekonnt und fein ausgearbeitet, für die gespenstische Maschine war auch noch der Zauberer Abdul Alafrez verpflichtet und das absolut filmreife Insektenkostüm der „Verwandlung“ stammte von der renommierten Maskenbildnerin Cécile Kretschmar.
Emilio Pomarico, ein früherer Assistent von Sergiu Celibidache in München und seitdem ein viel gefragter Dirigent für gegenwärtige Musik, der 2015 schon einen durch uns sehr gelobten „Wozzeck“ in die Dijon dirigiert hat, dirigierte mit Hingabe und „raffinement“. Auch wenn mit Abflussstampfern auf Kochtöpfe getrommelt wurde (Bruckners Orchester wurde durch einige moderne Küchengeräte erweitert), blieb das Orchestre Dijon Bourgogne dabei immer höchst musikalisch und differenziert. Die gesamte Besetzung und die zwölf Solisten des Opernchors sangen immer textverständlich und spielten mit größter Hingabe (es ist offensichtlich lang geprobt worden). Und doch wurde der Abend lang und ging die Rechnung nicht auf. Humor? Am Premierenabend haben sogar die vielen Jugendlichen im Saal nicht gelacht.
Das lag nicht an der Regie und den Interpreten, sondern einzig und allein an der von Brice Pauset gewählten Musikform – er schreibt bezeichnenderweise „Erzählform“: der „Sprechgesang“. Der Opernabend bestand beinahe ausschließlich aus einem dramatischen Rezitativ, ähnlich wie das „recitar cantando“ Monteverdis, mit nur drei kleinen „Arien“.
Die Schlussszene des Abends: der Offizier der „Strafkolonie“ (Allen Boxer) legt sich Selbst in den „eigentümlichen Apparat“, der die Urteile in den Sträflingen tätowiert. Der Reisende (Michael Gniffke, links), der Soldat (Ugo Rabec) und der Sträfling (Grégoire Lagrange) blicken besorgt auf die Maschine, die wie bei Chaplins „Modern Times“ Menschen verschluckt.
Das scheint anscheinend jetzt die gängige (vorgesetzte?) Opernform zu sein, denn das ist genau der Vorwurf, den ich meiner letzten rezensierten Opern-Uraufführung gemacht habe: „Le Silence des Ombres“ (Das Schweigen der Schatten) von Benjamin Attahir in Brüssel (Merker 10/2019). Pausets Musiksprache ist meines Erachtens um Einiges interessanter als die von Attahirs erster Oper, denn orchestrieren kann er absolut. Ich wundere ich mich also, warum er er für sein erstes großes Bühnenwerk quasi gänzlich auf Melodie verzichtet und „nur“ ein Melodram für Sänger und Orchester komponiert. In Brüssel war der Abend „langweilig“ und verließen schon nach 5 Minuten die ersten Besucher den nach der Pause weniger als halbleeren Saal. In Dijon blieben alle bis zum Schluss, wurde der Abend jedoch nach der Pause spürbar „lang“ für Alle – auch weil die quasi handlungslose „Strafkolonie“ fast nur aus einem ellenlangen Monolog des Offiziers besteht.
Das tat mir wirklich leid, denn man hätte den exzellenten Sängern gerne mehr „Futter“ gegeben. Emma Posman hatte als liebe Schwester, erst die oben zitierte Frieda und dann als Grete der „Verwandlung“ nur eine, recht instrumentale (Geigen-) Koloraturarie und Michael Gniffke hatte als böser Vater in den beiden gleichen Stücken, zumindest im „Urteil“ einen eindrucksvoll gesungenen Wutausbruch (nachdem sein Sohn Georg sich umbringt). Allen Boxer war von der ersten Minute an als Georg berührend – hatte jedoch bei solch einem dominanten Vater wenig zu singen. Leider auch als sich zum Schluss selbst opfernder Offizier der „Strafkolonie“ und vor allem nicht als Gregor Samsa in der „Verwandlung“. Dabei spielte er dreimal die Hauptrolle: die Figur, um die alles aufgebaut ist und mit der sich Kafka offensichtlich identifizierte. Er hat sie dennoch dreimal höchst intensiv verkörpert. Selten habe ich im Sprechtheater einen Käfer in der „Verwandlung“ so expressiv kriechen und klettern sehen (Allen Boxer ist offensichtlich auch Turner) – sogar Roman Polanski (vor einigen Jahren in Paris auf einer Theaterbühne) konnte/kann da an Körpersprache nicht mithalten. Das war der darstellerische Höhepunkt des Abends – leider war er musikalisch kaum umgesetzt.
Eine „Verwandlung“ in der Familie Samsa: Die Eltern (Michael Gniffke und Helena Köhne), der Prokurist (Ugo Rabec) und die Schwester (Emma Posman) stehen ratlos vor den Türen, die Gregor (Allen Boxer) nicht mehr öffnen kann.
Nach „Les châtiments“, der diesjährige Angelpunkt der für Dijon so typischen thematischen Spielzeit „Crime et châtiments“ (Schuld und Sühne), folgen „Macbeth“ (Ende März) und „Alcina“ (Mitte April). Und eine Stunde vor der Premiere gab der dynamische Direktor Laurent Joyeux schon die nächste Spielzeit bekannt (als Erster in Frankreich!). Sie wird wieder fröhlicher und „zauberhafter“ (das übergreifende Thema) und fängt mit zwei absoluten Raritäten an: „Der Traumgörge“ von Alexander Zemlinsky (Oktober 2020) und „Il Palazzo incantato“ von Luigi Rossi, mit einem zukünftigen Papst als Librettisten, doch seit 1642 in Rom nirgendwo mehr gespielt (Dezember 2020). Dies alles mit einem Jahresetat von nur 12 Millionen Euro. Das ist ungefähr 10 % des Etats der Pariser Oper und weniger als diese seit Anfang des Streiks im Dezember – inzwischen der längste der französischen Operngeschichte – schon verloren hat. Komplimente für Dijon! Waldemar Kamer
Waldemar Kamer 14.2.2020
Alle Fotos (c) Gilles Abegg
Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online (Wien)