Provokanter Auftakt der neuen Spielzeit mit Barrie Koskys Welt: queer, transgender, „nicht-binär“, „ein Zirkus“. Irritierend und doch auch gekonnt, mit genial heutigen Texten im Sinne Offenbachs.
Eine neue Spielzeit beginnt an der Pariser Oper und es gibt viel zu berichten: Der Vertrag des Intendanten Alexander Neef wurde in diesem Frühjahr bis 2032 verlängert, ungewöhnlich lang, aber in dieser Situation absolut notwendig. Denn beide Häuser, die Opéra Bastille (schon lange!) und leider auch wieder das Palais Garnier, müssen generalsaniert werden, und bei einem so langwierigen und komplizierten Unterfangen braucht es natürlich Stabilität in der Führungsetage. Ursprünglich war geplant, beide Häuser ab 2026 für ein Jahr zu schließen, aber da es offenbar nicht möglich ist, in Paris genügend Ausweichquartiere für 365 Vorstellungen im Jahr zu finden, wird die Renovierung des Palais Garnier wohl verschoben. Wir freuen uns, dass die Pariser Oper nach den Krisenjahren wieder in ruhigeres Fahrwasser gekommen ist und so etwas wie langfristige Planung wieder möglich ist. Das riesige Defizit, das Neef bei seinem Amtsantritt erwartet hatte (über 80 Millionen Euro), ist abgearbeitet. Bravo! Einen neuen Generalmusikdirektor gibt es noch nicht, seit Gustavo Dudamel mitten in seiner zweiten Saison die Tür schmiss. Aber das ist strukturell kein Problem – das Orchester war auch unter Mortier fünf Jahre ohne Chefdirigenten, bevor Philippe Jordan 2009 berufen wurde. Für die Nachfolge Dudamels sind mehrere Namen im Gespräch, es könnte aber auch sein, dass das Gehalt vorerst einfach eingespart wird – denn die allgemeine Finanzlage ist viel schlechter, als in den ausländischen Medien berichtet wird. Frankreich ist inzwischen das mit Abstand am höchsten verschuldete Land der EU: Die Staatsverschuldung stieg unter Präsident Macron von zwei auf über drei Milliarden Euro, das jährliche Haushaltsdefizit ist doppelt so hoch wie in der Eurozone erlaubt – weshalb die EU nun mit Strafzahlungen droht. Paris ist seit Jahren die am höchsten verschuldete Hauptstadt Europas (mit bald unglaublichen zehn Milliarden Euro – alles Zahlen von vor den Olympischen Spielen), weshalb im hoch verschuldeten Théâtre du Châtelet – vor zwanzig Jahren noch eine der ersten Opernadressen der Stadt – keine Opern mehr gespielt werden (können). Und wegen der angekündigten Sparmaßnahmen wird oft und gerne gestreikt. So fiel die Vorstellung am Vorabend der von mir rezensierten Aufführung wegen eines „spontanen Streiks“, für den die Opernleitung nicht das Geringste kann, einfach kurzfristig aus. In der Oper also gleichzeitig Streik und „Fashion Week“ mit Modenschauen im Foyer – Zustände wie in einer Operette von Jacques Offenbach!
Die erste Neuproduktion der neuen Spielzeit ist wieder eine Provokation (die Neef offensichtlich nicht scheut). Nicht so abstoßend wie im letzten Jahr Kirill Serebrennikovs „Lohengrin“, der bei Publikum und Presse auf ungekannte Ablehnung stieß, sondern bunt subversiv mit Barrie Kosky, dessen Lesart eine interessante Debatte auslöste. Ganz im Stil seiner erfolgreichen Inszenierungen an der Komischen Oper in Berlin verlegte Kosky die Handlung in seine queere Welt, ohne sich vielleicht bewusst zu sein, dass das, was für das Berliner Publikum offensichtlich akzeptabel ist, nicht unbedingt auch für das Pariser Publikum gelten muss. Denn hier kennt man Offenbach viel besser als anderswo: Ich habe in den letzten Jahren mehr als ein Dutzend seiner Opern und Operetten in Paris rezensiert. Deshalb stößt hier ein so „radikal neues Konzept“ (Kosky) auf mehr Unverständnis und ebenso radikale Ablehnung. Denn schon bei der Generalprobe (mit nur geladenen Gästen, die dem Haus und dem Team nahestehen) verließen wütende Zuschauer den Saal, bei der Premiere sowieso (siehe Presseberichte) und auch bei der 5. Vorstellung, die ich besuchte, standen gleich nach der Ouvertüre Besucher im Parkett auf (wo die Plätze immerhin 220 € kosten) und gingen mit dem Kommentar: „Wir gehen doch nicht in die Oper, um ein Remake der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele zu sehen“ (die in Frankreich eine riesige Debatte ausgelöst hat).
Doch der Reihe nach. Den üblichen Abschnitt über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes kann man sich in diesem Fall sparen, denn Kosky und sein Team scheinen sich weder szenisch noch musikalisch damit auseinandergesetzt zu haben. Als Vorlage für „Les Brigands“ (1869), ein köstliches Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy, dienten weniger Schillers „Die Räuber“ (1782) und die davon inspirierten Opern wie Verdis „I Masnadieri“ (1847) und Mercadantes „I Briganti“ (1846) als vielmehr die damals in Paris sehr beliebten Räuberoperetten. Allen voran „Fra Diavolo“ (1830), die heute meistgespielte Oper von Auber (dessen „Le domino noir“ (1837) wir gerade an der Opéra Comique besprochen haben) oder „Zampa“ (1831) von Ferdinand Hérold (dort noch 2008 gespielt). Offenbach und seine Librettisten kannten dieses Repertoire besonders gut, weshalb „Les Brigands“ bereits drei Monate nach der Pariser Uraufführung im Theater an der Wien gespielt wurde mit dem deutschen Titel „Die Banditen“. Es war Offenbachs letzter großer Erfolg vor dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870.
Erzählt wird die Geschichte des sympathischen Räuberhauptmanns Falsacappa (für den es mehrere historische Vorbilder gibt), der einige Schwierigkeiten mit seinen 73 italienischen Banditen hat, aber auch mit seiner schönen Tochter Fiorella, die sich in den reichen Bauern (oder Bankier) Fragoletto verliebt hat und ihn heiraten will, weil beide von einem ehrlichen und bürgerlichen Leben träumen. Doch Falsacappa braucht Fiorella für einen großen Coup: Sie soll als Prinzessin von Granada am Hof des Grafen von Mantua auftreten. Denn Mantua schuldet Granada ganze fünf Millionen, von denen drei Millionen dem spanischen Gesandten beim Erscheinen der Prinzessin in Gold ausgezahlt werden müssen (die anderen beiden werden als Mitgift abgezogen). Ein komplizierter Coup, denn die Banditen müssen sich viermal verkleiden: als Hoteliers, Polizisten, Politiker aus Mantua und schließlich als spanische Gesandtschaft – und diese Gruppen werden von Offenbach herrlich durch den Kakao gezogen. Die unterschwellige Moral der Geschichte: Auch sie sind (eigentlich nur) Banditen.
Kosky inszeniert das Werk so, als handele es sich um eine Benefizvorstellung für das während der Pandemie Pleite gegangene Lido oder das kurz vor dem Konkurs stehende Moulin Rouge. So beginnt die Ouvertüre – eigentlich die Räuber in den Bergen – mit einer Art French Cancan, dem ein aktuelles gesellschaftliches Thema hinzugefügt wird, denn der Räuberhauptmann mutiert zum nicht-binären Transvestiten, also zu einem Menschen, der sich der traditionellen Gegenüberstellung von Mann und Frau verweigert, sich montags als Mann, dienstags als Frau, mittwochs als weder noch und donnerstags als beides fühlt – weshalb das Programmheft nun mit informativen Gender-Texten von Susan Sonntag und der nicht-binären Judith Butler gefüllt wurde. Und so erklären sich auch die umgeschriebenen Texte, in denen „le sentier de la Vertu“ (der Weg der Tugend, den Fiorella einschlagen will) mutiert zur Warnung: „Aber meine Tochter, in der kranken heterosexuellen Welt und in einer monogamen Ehe erwartet Dich nur Langeweile“. Und das sagt ihr Falsacappa als wohlmeinende Mutter (statt „ton père“ singt er „ta mère“), obwohl sie ihn weiterhin als Vater anspricht – was er schrecklich „woke“ findet. Geschlechtliche Diversität und Fluidität werden so unerwartet zum Hauptthema der Handlung. Aber wie immer bei Kosky – das muss man ihm und seinem Team lassen – wird die Show hochprofessionell durchgezogen, schauspielerisch und tänzerisch oft beeindruckend, und wir hätten viel Lob gespendet, wenn wir dies im Lido oder im Moulin Rouge gesehen hätten. Aber in der Pariser Oper erwartet ein Großteil des Publikums Opernmusik, die Kosky radikal verweigert. Im offiziellen Trailer sagt er: „it should never sound like opera, never like 19th-century French opera, it must sound like a circus“. Und so klang es auf der Bühne oft wie im Zirkus…
Was kann man bei einem solchen Konzept über die Sänger sagen? Marcel Beekman gestaltete einen fulminanten Falsacappa, und ich dachte, er, der an der Pariser Oper debütierte, sei eine Figur des Berliner Nachtlebens, die Kosky im Schlepptau hatte. Doch aus dem Programmheft entnahm ich, dass er auch in Wien und Salzburg unter namhaften Dirigenten gesungen hat, was beweist, dass er als Tenor eine ausgebildete Stimme haben muss – von der wir nun so gut wie nichts gehört haben. Denn auf Befehl des Regisseurs sang er fast nur mit Kabarett-Zirkus-Kopfstimme. Das gilt auch für seine zwanzig Sängerkolleginnen und -kollegen, von denen wir viele schon in Offenbach wunderbar gehört und in ihren jetzigen Rollen stimmlich nicht wiedererkannt haben. Einige Routiniers haben es dennoch geschafft, richtig zu singen, wie Philippe Talbot als Comte de Gloria-Cassis (mit köstlichem spanischem Akzent) und Laurent Naouri als Chef des Carabiniers mit Louis de Funès-Allüren. Die schönste Stimme des Abends war für uns Antoinette Dennefeld als Fragoletto und die besten Sänger – es ist hart, aber ich bin bei weitem nicht der Einzige, der das so sieht – der Chor der Oper. Wieder hervorragend einstudiert von Ching-Lien Wu, die wohl auch auf der Bühne dirigiert hat, denn der Chor schaffte es, nach einigen Ausrutschern wieder in den Takt zu kommen. Der größte Beifall galt dem Chor und dem Orchestre de l’Opéra de Paris, das teilweise wirklich wunderbar spielte (ein großes Kompliment an die Hörner!), unter der Leitung des kompetenten und engagierten Stefano Montanari, dem man für sein Debüt an der Pariser Oper eine andere Produktion gewünscht hätte. Man braucht sich nur die so genannte „Referenzaufnahme“ von John Eliot Gardiner aus 1989 in Lyon anzuhören und sie mit den Videos der aktuellen Produktion zu vergleichen, um zu erkennen, welch völlig unterschiedliche musikalische Ansätze hier aufeinanderprallen.
Aber im Gegensatz zu einigen meiner französischen Kollegen kann ich nicht schreiben, dass früher alles besser war. Musikalisch war die letzte Produktion von „Les Brigands“ 1993 viel überzeugender, mit dem damals blutjungen Louis Langrée bei seinem Debüt an der Pariser Oper und dem unvergessenen Michel Sénéchal als Falsacappa. Aber szenisch? Ich erinnere mich noch sehr genau an die historisierende Inszenierung von Jérôme Deschamps und Macha Makaeieff, die 1992 in Amsterdam Premiere hatte und zwanzig Jahre lang durch Frankreich tourte (bis 2011 an der Opéra Comique). Ich habe sie also oft gesehen und rezensiert und fand sie immer etwas „verstaubt“. Die Räubergeschichte kam gut rüber, aber was fehlte, war der sozialkritische Biss, mit dem Offenbach seine Zeitgenossen karikierte: den Hof von Kaiser Napoleon III. und seiner spanischen Gattin, den korrupten Baron Hausmann & seine Frau, die Bankiers Pereire, die damals die französische Eisenbahn in den Ruin trieben, den inkompetenten Chef der Polizei (die in der „Affaire Jean-Baptiste Tropmann“ immer zu spät kam) etc. Diese Anspielungen waren 1993 nur für wenige Spezialisten wie mich verständlich, und wir waren uns alle einig, dass diese Dialoge eigentlich völlig neu geschrieben werden müssten, eben „heutig“. Das hat jetzt Koskys Dramaturg Antonio Cuenca Ruiz getan. Auch wenn ich mit der Dramaturgie (Koskys Regieansatz) überhaupt nicht einverstanden bin (z.B. die Seitenhiebe auf die katholische Kirche, die nirgendwo im Werk stehen), verneige ich mich vor diesen neuen Dialogen. Zum Beispiel der eingeschobene Satz von Fiorella „Papa, erzähl mir eine Banditengeschichte“. Antwort: „Es war einmal ein Bankier, der wurde Präsident…“. Weiter kam Falsacappa nicht, denn der ganze Saal brach in schallendes Gelächter aus – denn jeder erkannte Präsident Macron, unseren „Mozart der Finanzen“, ursprünglich bei der Banque Rothschild.
Das trifft genau den esprit von Offenbach: Anspielung & Kritik, für jeden verständlich, im spielerischen Ton gehalten und nicht unter der Gürtellinie – leider das Hauptfaszinosum dieser Produktion von Kosky und seinem Team. Sehr gelungen auch die Anspielungen auf die Vorliebe unserer Politiker für teure Uhren mit einem Originalzitat von Nicolas Sarkozy. Der größte Coup in dieser Hinsicht war der Gastauftritt der Fernsehmoderatorin Sandrine Sarroche als „Finanzminister“ von Mantua, der im Libretto die drei Millionen aus der Staatskasse mit „gutem Essen“ und „schönen Frauen“ veruntreute. In heutiger Bürokleidung wandte sie sich an das Publikum im „Palais Barnier“ (unser am Premierentag neu ernannter Premierminister) und zog in einer langen Reimfolge – im Stil der österreichischen Kabarettistin und Poetry-Slammerin Lisa Eckhart (allerdings nicht ganz so gekonnt wie diese) – die aktuellen Politiker durch den Kakao. Dabei nannte sie mehrere Finanzminister beim Namen, von denen einige inzwischen wegen Veruntreuung verurteilt wurden. Das ging vielen zu weit, für mich ging es noch. Was aber gar nicht ging, war, dass diese Dame – die als einzige mit einem Mikrofon verstärkt werden musste, weil sie keine ausgebildete Stimme hat – dann auch noch die Korruptions-„Couplets“ von Antonio (der sich nun als Antonia outete) singen sollte. Wozu sie schlicht und ergreifend nicht fähig war, was mit Buh-Rufen aus dem Saal quittiert wurde. Denn es war auch eine sichtliche Beleidigung der Offenbach-Tenöre, die diese Arie mühelos hätten singen können und nun tatenlos in Unterhosen diesem gesanglichen Debakel beiwohnen mussten. Es haperte also an der Umsetzung, aber die Idee war genial: aktuelle Dialoge, die offensichtlich erst bei der Premiere geschrieben wurden und sich heute auf die Tagesaktualität beziehen. So gewinnt ein „verstaubtes Werk“ von Offenbach wieder an Biss, und das könnte man auch mit vielen seiner anderen Opern erreichen, zum Beispiel mit dem Hund/Premierminister „Barkouf“ (bei dem ich mich 2018 in Straßburg furchtbar gelangweilt habe).
Eine weitere gute Nachricht: Alle Vorstellungen von „Les Brigands“ sind ausverkauft (anscheinend auch die zweite Serie im Juni), was bei einem so seltenen Werk eine große Leistung ist. Der Spielplan besteht wie üblich aus sechs Neuinszenierungen und zwölf Wiederaufnahmen, beginnend mit der zeitlosen „Butterfly“-Inszenierung von Bob Wilson (die seit 30 Jahren an der Opéra Bastille gespielt wird – noch bis zum 25. Oktober). Im Januar folgen die nächsten Neuinszenierungen, „Castor et Pollux“ von Rameau (Teodor Currentzis/Peter Sellars) und das lang erwartete „Rheingold“, der Auftakt zum neuen „Ring“, dessen Proben 2020 wegen des Ausbruchs der „Pandemie“ unterbrochen werden mussten. Geplant sind nun „Rheingold“ 2025 (Pablo Heras-Casado/Calixto Bieto), „Walküre“ 2025/26 und vielleicht der ganze Ring schon 2026/27 – on verra. Im März folgen „Pelléas et Mélisande“ (Antonello Manacorda/Wajdi Mouwad) und Pascal Dusapins neue Oper „Il viaggio, Dante“ (Uraufführung 2022 in Aix) und im April/Mai Puccinis „Trittico“ von Christoph Loy aus Salzburg, wieder mit Asmik Grigorian. Dazu natürlich ein Konzert- und Ballettprogramm. Es gibt also wieder viel zu berichten über die Pariser Oper!
Waldemar Kamer, 6. Oktober 2024
Les Brigands
Jaques Offenbach
Opéra National de Paris (Palais Garnier)
Inszenierung: Barrie Kosky
Dirigat: Stefano Montanari
Orchester und Chor der Opéra de Paris