Sowohl Emma Bovary als auch Anna Karenina (in Flauberts, respektive Tolstois Romanen) stopften sich bei Lucias als Wahnsinnsarie bekanntem Auftritt die Ohren zu und verliessen das Theater, weil es ihnen zu laut und zu schrill war. Das brauchte man gestern Abend in Zürich aufgrund der Sängerin nicht zu tun, denn Irina Lungu gestaltete diese Szene nicht als akrobatisches, ehibitionistisches Bravourstück für den Kehlkopf sondern bewegte mit dem Abdriften in den Wahnsinn durch Feinfühligkeit, Zartheit und Zerbrechlickeit, durch fein hingetupfte Koloraturen und zart vom Vibrato umflorte Phrasen. Wirkte sie in ihrem ersten Auftritt (Regnava nel silenzio) noch etwas zu forciert und unschön in der Attacke der Spitzentöne, steigerte sie sich im Duett mit dem Bruder, berührte mit ihrer Klage und ihrem Aufbegehren gegen die ihr vom Patriarchat zugedachte Opferrolle der Frau, auch in der Szene mit dem von der Regie eher blass gezeichneten Erzieher Raimondo (mit sonorer Sanftmut gesungen von Oleg Zibulko). Die Regisseurin Tatjana Gürbaca hatte sich viele sinnfällige Gedanken zur Gestalt der Lucia Ashton gemacht, pantomimische Szenen aus deren nur zum Teil glücklichen Kindheit mit Bruder Enrico, Normanno und Edgardo Ravenswood (inklusive Missbrauch durch einen als Stier verkleideten Mann und Rettung durch den jungen Edgardo) eingefügt.
Auf dem Papier im Programmheft klingt das alles sehr überzeugend – in der szenischen Umsetzung im Bühnenbild von Klaus Grünberg und mit den Kostümen von Silke Willrett bestätigte sich dieser positive Eindruck der Konzeption leider nicht. Das Team arbeitet mit den üblichen Versatzstücken des als „Regietheater“ verunglimpften Inszenierungsstils an vielen westeuropäischen Bühnen: Sich zunehmend skelettierende Drehbühne mit nur leicht veränderten Räumen, eisernen Bettgestellen, Bahnhofsuhren, die zunehmend ver-rückt spielen, wirrer Kostümmix aus Kilt, Jogginghosen, Anzügen, Betten, die zu Gräbern werden, Totentänze und Polonaisen (während des Sextetts!!!) und Duelle mit mittelalterlichem Waffenarsenal in Zeitlupe, Hantieren mit Fotoapparaten und pseudo-lustigen Gruppenbildern. Die Oper ist eine irrational Kunstform, klar. Wenn man die Irrationalität noch dermassen auf der Bühne verdoppelt, wird es absurd, berührt nicht und rüttelt schon gar nicht mit dem Kernthema auf. Die wenigen naturalistischen Einschüber (Lucia ermordet Arturo auf offener Bühne durch unzählige Messerstiche) machen das Ganze auch nicht besser. Es gibt einige wenige starke Bilder und Momente in der Aufführung, daneben aber auch viel (gewollte?) Unbeholfenheit, die an Laientheater (wegen Bescheidenheit der Mittel) erinnert.
Wie gesagt, bei der Interpretin der Lucia musste man sich die Ohren nicht zuhalten. Bei ihren Bühnenpartnern schon eher. So laut braucht man im relativ kleinen Opernhaus Zürich, das nur mit 100 Zuhörern besetzt werden durfte, nicht zu brüllen. Sowohl Massimo Cavalletti als auch der (umjubelte) Piotr Beczala nutzten ihre Auftritte als Vehikel zur (zugegeben) eindrücklichen Stimmprotzerei. Beczala nimmt mit dieser Aufführungsserie Abschied von der Rolle des Edgardo und wendet sich dem schwereren Fach zu. Eine richtige Entscheidung. Seine Stimme gleisste zwar blendend, die Phrasierung und der grosse Atem waren bewundernswert – allein die charakterliche Differenzierung und die Sensibilität für den unglücklichen Edgardo blieben auf der Strecke. Ebenfalls im Dauerfortissimo sang Massimo Cavalletti (er war schon 2008 in der Rolle des Enrico in Zürich zu hören gewesen), wobei bei ihm dann auch in der effektvoll herausgebrüllten Kabaletta von Cruda, funesta samnia die Intonation nicht über alle Zweifel erhaben war. Immerhin fand er dann im schön gestalteten Duett mit der Schwester zeitweise zu beinahe tröstend-väterlichen Tönen, doch damit war es dann in der Gewitterszene schnell wieder vorbei. Hier wollten sich die beiden Kontrahenten wohl mit der Dezibelzahl – und nicht mit Waffen – gegenseitig niedermachen. Die Statisten (der Chor sang aus dem Off und wurde vom Kreuzplatz her mittels Glasfaserkabel zugeschaltet) in Klamotten, die wohl im Fundus zusammengekratzt waren, lagen zuerst wie tot auf dem Boden und erhoben sich dann zu den erwähnten absurden Zeitlupe-Duellen. Überhaupt hatten diese Statisten viel zu tun und lösten ihre Aufgaben innerhalb der gewöhnungsbedürftigen Konzeption mit Hingabe. Iain Milne sang einen forschen Normanno, durchtrieben und ein bisschen wollüstig (machte sich im Hochzeitsbild an Lucias Vertraute Alisa ran). Roswitha Christina Müller liess als Alisa mit kräftigem Mezzosopran aufhorchen. Arturo wurde von Andrew Owens mit schön timbriertem Tenor gesungen, von der Regisseurin leider der Lächerlichkeit preisgegeben.
Wie der Chor wurde auch die Philharmonia Zürich (pandemiebedingt) aus dem Probesaal am Kreuzplatz akustisch zugeschaltet. Der Tonmeister Michael Utz leistete hervorragende Arbeit, so dass man die schönen Feinheiten, welche die Dirigentin Speranza Scapucci zusammen mit dem Orchester herauarbeitete, wunderbar geniessen konnte. Die Wahnsinnsszene der Lucia wurde (wie in der Originalpartitur vorgesehen) von der Glasharmonika begleitet, welche von Thomas Bloch mit grosser Senisbilität gespielt wurde. Das Resultat war ein feinfühliges, ungemein spannende Reibungen ergebendes Duettieren mit der Sopranistin Irina Lungu.
Die Reaktion des (sehr kleinen) Premierenpublikums auf diese Neuproduktion war sehr verhalten. Wenig Zwischenapplaus und am Ende Jubelrufe eigentlich nur für Piotr Beczala, die restlichen Sänger erhielten leider kaum mehr als freundlichen Applaus, das Inszenierungsteam gar deutliche Missfallenskundgebungen, obwohl man unter der Maske nicht schreien sollte.
Für die Wiederaufnahme im Mai/Juni 2022 sind Lisette Oropesa (Lucia) und Benjamin Bernheim (Edgardo) als Liebespaar besetzt.
Kaspar Sannemann, 30.6.2021
Bilder von Herwig Prammer