Steingraeber, Kammermusiksaal. 5.7.2022
Zwei Spieler, ein Jahrgang. Natürlich ist es interessant, die beiden, ziemlich gegensätzlichen Charaktere zu vergleichen. Andererseits verlangt der junge Schumann Anderes als der alte Brahms – abgesehen von den manuellen Qualifikationen, die hier wie dort gelten; über Interpretationen reden wir später.
Dina Ivanova und Pedro Borges also, Jahrgang 1994, zwei Leute von der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Klavierklasse Kirill Gerstein, Leitung: Prof. Brigitta Wollenweber. Dass sie aus demselben Stall komme, hört man schon deshalb nicht, weil die Russin erst seit 2022 dabei ist. Gemeinsame Prägungen könnten, wo‘s um die Kunst geht, eh nicht von völligem Vorteil sein. Wenn Ivanova also den Carnaval Robert Schumanns spielt, setzt sie den Zyklus einem Stresstest aus, oder anders: Sie betont eher und gewaltiger das Aufgebrachte, Unruhige und Weltschmerzliche, das sich in der Hysterie einer unerlösten wie überdrehten Seele artikuliert, die noch auf dem Weg zu sich selbst – und zur geliebten Chiarina ist. Aus einem bloßen Vivo wird ein Vivace, der Tanz führt nicht durch die Redoute, sondern ins Narrenhaus, wo es markant ist, wird es zackig. Zugegeben: die Papillons flattern schon laut Vortragsbezeichnung prestissimo durch den Raum, bevor die Pause ausdrücklich precipitandosi, als wär‘s ein Stück von Prokofjew, den Hörer überfällt. Die Reconnaissance ist schon sehr gespannt. Die Carnavalsbesucherin neigt zur Manie: das hat etwas von E. T. A. Hoffmann, dem Zeitgenossen des Komponisten. Passend dazu: die Estampes Claude Debussys. Ivanova verflüssigt schon die Pagodes, deren Tempo gerät erst gar nicht in den Verdacht, in einer windstillen Landschaft zu stehen. Allein die Jardins sous la pluie sind mehr als eine brillante Fingerübung: Frau Ivanovas Impressionismus ist von glasklarer Färbung.
Den späten Brahms zu spielen heißt: technische Fertigkeiten mit sog. seelischen Werten in Einklang zu bringen. Pedro Borges spielt also die Nr. 1 der 6 Klavierstücke op. 118 molto appassionato, das Andante teneramente des 2. Intermezzo sehr zart – und er entdeckt in der Ballade den Tanz (ich denke: Liegt‘s daran, dass er aus Portugal stammt, wo man und frau noch ein anderes, näheres Verhältnis zum traditionellen Tanz hat? Con passione, so könnte man die Generalinterpretation bezeichnen, mit der Pedro Borges an Brahms herangeht: nicht schleppend, innerlich bewegt, das Linienspiel mit den poetisch-emotionalen Entwicklungen in Einklang ringend: bis hin zum letzten Intermezzo, einem dunklen es-Moll-Dies-irae-Abschluss, nach dem erst einmal ein paar Sekunden Stille herrschen. Die harten Glockenschläge von Oliver Knussens Prayer Bell Sketch, einem Gedenkstück für Toru Takemitsu, waren da schon längst verklungen: ein Stück, das nicht an Arvo Pärts Tintinnabuli-Stücke, sondern an die Moderne der Spaltklänge erinnert.
Es wäre interessant gewesen, hätte Ivanova im Anschluss den Brahms und Borges schließlich den Carnaval gespielt. Zwei Spieler, ein Jahrgang – mehrere Interpretationen, also auch: mehrere Werke.
Frank Piontek, 6.7.2022