Bayreuth: Musica Bayreuth / Gluck-Opern-Festspiele:

Markgräfliches Opernhaus, 13.5.2022

HÄNDEL UND GLUCK – GIPFELTREFFEN: MIT SAMUEL MARINO

Bei manchen Konzerten wäre man gern dabei gewesen – so etwa am 25. März 1746. Damals konzertierten zwei Herren zusammen, die, stilistisch und generationsmäßig betrachtet, die Fackel der Musik- und Operngeschichte wechselten. Der 61jährige Händel und der 31jährige Gluck, an sich ja schon naturgemäße Konkurrenten, verstanden sich offenbar so gut, dass ein Duo-Konzert möglich war: mit Arien aus dem Alexanderfest und dem Samson und einem Orgelkonzert des älteren und Arien aus der Caduta dei Giganti des jüngeren Musikers. „Zwischen den beiden Meistern“, schrieb Anna Amalie Abert in ihrer Gluck-Biographie, „war das Gitter des großen Stilwandels vom Spätbarock zur Empfindsamkeit niedergegangen – sie sprachen zwei verschiedene Sprachen. Das fein ziselierte Rüstzeug der barocken Polyphonie mit ihrem kunstvoll verschlungenen Linienspiel, dessen Besitz der Generation Händels inneres künstlerisches Bedürfnis war, bedeutete für Gluck um seiner selbst willen nichts mehr.“ Diese Unterschiede aber markieren beiderlei Größen, die sich doch in Einem trafen: im Willen zu einer Monumentalität und einer gelegentlichen, durch höchste Kunstmittel unterfütterten Verspieltheit. Schon die Arien aus den Opere serie des jungen Gluck offenbaren ja ein erstaunliches Maß an Ernsthaftigkeit, gelegentlich sogar den echten, unvergleichlichen Gluck-Sound; im metallischen Tremolo der Violinen erklingt im 1756er-Antigono die Moderne.

Wir hören es am Abend, an dem zwar nicht die Werke des Konzertgipfeltreffens, ach was: des Gipfelkonzerttreffens von 1746, aber einige Werke gespielt werden – bei denen die Frage der stilistischen Unterschiede so wesentlich wie seltsam unwichtig wird. Denn obwohl selbst dem opernfernsten Hörer schon bei den ersten Takten der Sinfonia zu Glucks Antigono klar sein muss, dass der Schöpfer dieser Musik ein gänzlich anderer ist als der der ersten vier Stücke, ist die Freude über den Kontrast bedeutend größer als die mögliche Überlegung, inwiefern sich eine frühe Arie des jüngeren Opernkomponisten von einer Arie des Altmeisters stilistisch unterscheidet; dass sie sich unterscheiden, hört jeder Esel. Schließlich liegen zwischen dem Antigono von 1756 und dem Giulio Cesare von 1724 32 Jahre, also fast eine ganze Generation – die zeitliche Nähe zwischen dem 1739 komponierten Concerto grosso op. 6/1 und dem Tigrane von 1743 sollte nicht überschätzt werden. Überhaupt ist es schön, an diesem Abend immerhin drei Arien (zwei aus den oft nur unvollständig erhaltenen frühen Opern) und eine Sinfonia Glucks zu hören – dem stehen drei Händel-Arien und zwei Instrumentalstücke des Hallensers gegenüber, was aus dem Programm ein (angenehm!) kurzes, besser: dramaturgisch konzentriertes macht. Wie immer kommt es mehr auf die Qualität als auf die Quantität an; man kann es im Übrigen auch nachhören, wenn man sich die CD mit dem Programm zulegt, dass Samuel Mariño zusammen mit dem kongenialen Händelfestspielorchester Halle unter Michael Hofstetter eingespielt hat – was der Hörer am heimischen Herd sitzend indes nicht wahrnehmen kann, sind die Körpersprache, der Habitus, der Auftritt, der zarte wie liebenswürdige Humor, der chic und die emotionale Versenkung des Sängers, mit dem er aus seinem an sich rein konzertanten Auftritt eine regelrechte performance macht. Mariño ist auch sichtbar bei der Sache, während seine Stimme die Stimme eines jungen Mannes ist, der niemals durch den Stimmbruch gehen musste, eine Stimme, die, in aller Androgynität, reinster Sopran ist. Mariño erklimmt scheinbar mühelos die höchsten vokalen Sphären, sein Vokalorgan flackert lustig, schon in der Arie des Meleagro aus Atalanta, Non sarà poco, durch die notorisch schwierigsten Koloraturen – und er entzückt das Publikum durch die tiefe Anteilnahme, die er in den „tragischen“ Stücken herauslässt. Das dramatische Rezitativ in Szene und Arie der Berenice aus Glucks Antigono, „Berenice, che fai“, bei der man versteht, wieso Gluck nach der Premiere des Werks im Rom des Jahres 1756 zum „Ritter Gluck“ ernannt wurde, wird zum lyrisch-dramatischen Höhepunkt des Abends. Den hochmusikalisch-komischen hatte der Sänger zusammen mit der Oboistin gemacht: als sie sich in ein quecksilbriges Duett aus Händels Arminio (Quella fiamma) warfen. Die Oboe war auch am Concerto grosso op. 6/1 beteiligt, dessen Adagio – in dieser Interpretation – endgültig klar macht, dass die musikwissenschaftlichen Epochenschubladen kaum sinnvoll sind: denn klingt der langsame Satz nicht wie die pure „Romantik“? (Abgesehen davon, dass auch E. T. A. Hoffmann Glucks reife Opern zu den Werken der musikalischen Romantik zählte?) Kommt hinzu das von Händel favorisierte Linienspiel: das Orchester glänzt durch die schönste, sensibelste Polyphonie, in der Sinfonia zu Glucks Antigono beispielhaft durch Vitalität, im langsamen, lyrischen Teil durch das Solo der Violinistin.

Zwei Zugaben: Che farò aus dem Orfeo und Care selve aus Atalanta – womit der Sänger sich, allein begleitet vom b.c. noch einmal wie eine Nachtigall in die Herzen sang.

Schön also, dass man dabei war.

Frank Piontek, 14.5.2022