Irgendwie kommen sie alle von Janáček her. Oder täuscht es nur, wenn man selbst im Werk eines jungen Mannes Reflektionen auf das Werk des Alten wahrzunehmen meint? Denn Vox Maris, ein Klavierstück des Interpreten des Abends, der auf Einladung der Deutsch-Tschechischen Gesellschaft Bayreuth in Steingraebers Kammermusiksaal auftrat, besitzt akkurat jene Schärfen und Tonknäuel, die wir vom Brünner Komponisten so gut kennen. Bohumír Stehlík ist ein Mann aus Brünn. Geboren 1990 in Prag, lehrt er bereits seit 2006 an der Janáček-Akademie in Brünn, außerdem sitzt er auf der Orgelbank in Křtiny – Eidechsenohren hörten am Abend, dass die Anlage seiner Klavierstücke auch den Erfahrungen mit der spezifischen Orgelorganisation zu danken sei. Hört man sich hinein in 440Hz und Vox Maris, vernimmt man vor Allem einen Nachromantiker, der seine Liebe für Liszt und Rachmaninow nicht verleugnet, mit der Aeolian Harp die Romantik gar in die Minimal Music überführt.
Anklänge an ältere Musik finden sich auch im Mittelpunkt des ungewöhnlichen Abends – ungewöhnlich ist er schon deshalb, weil mit einem Werk von Miloslav Kabeláč ein nicht allein hier eher selten zu hörendes Opus auf dem Programmzettel steht. Shakespeare-Musik-Freunde mögen seine Hamlet-Improvisationen kennen, hartgesottene Kenner der neueren tschechischen Musik seine acht Symphonien. Kabeláč war ein Unangepasster, der nach dem Prager Frühling unter der Knute der Freunde des Sozialistischen Realismus stand; Werke wie die acht Präludien op. 30 zeigen, auf welche Widerstände ein Komponist stoßen musste, der sich des allgemeinen Positivismus verweigerte. Sie entstanden 1956, also im Umkreis des Ungarischen Aufstands, und enthalten jene persönlichen Reflexionen, die sie so manisch machen. Die Musik kreist beständig um sich selbst, arbeitet sich durch strikt asymmetrische Perioden (die rapiden Taktwechsel sind die Normalform dieser Stücke) und verzehren sich, monomanisch auf kleinen Themen beharrend, in meist dunklen Kernen; selbst ein helles Stück wie das Präludium sognante atmet keine Fröhlichkeit. Wenn im Präludium arioso der Mittelteil aus Chopins Trauermarsch das harmonisch leicht entstellte Thema stellt, ahnen wir, worum das Individuum trauert, das diese Musik anstimmt.
Interessanterweise atmet auch die Musik des Interpreten etwas vom Geist der Musik des avantgardistischen Ahn. Wie bei Kabeláč organisiert der junge Mann seine Musik um präzise Kerne herum; ein Ostinato, wie jenes, das durch 440Hz läuft, ist eher typisch als ungewöhnlich. Und noch im Abschlussstück, der Suite Chernobyl on Wheels, die in drei Sätze die letzte Reise eines schwer Kranken in Musik fasst, regiert eine Übersichtlichkeit die Form, die zur spätesten Romantik gar nicht so schlecht passt. Stehlík geht die Musik der Anderen und seine eigene relativ kühl an – die Emphase ist gezügelt, auch in Janáčeks Im Nebel, in dem der Komponist den Anschluss an die musikalische Moderne seiner Zeit fand.
Stelíks Art, sich dieser sperrigen Musik zu widmen, passt zu seinem intellektuellen Naturell, das sich dem totalen Überschwang verweigert und stattdessen die Reinheit der Formen und das innnerste Glühen zum Vorschein bringt. Das Programm war daher gut gewählt – und den großen tschechischen Meistern (und gerade den bei uns eher unbekannten) wiederzubegegnen, ist ja immer lohnend.
Frank Piontek, 28.10. 2022
Steingräber Kammermusiksaal, Bayreuth, 27. Oktober 2022
„Bohumír Stehlík spielt böhmische Klaviermusik“
Bohumír Stehlík (*1990)
Miloslav Kabeláč (1908-1979): „8 Preludien für Klavier„, op. 30 (1956)
Leoš Janáček (1854-1928): „V mlhách – Im Nebel„, Vierteiliger Zyklus von 1912