Salzburg: „Drei Schwestern“, Peter Eötvös

Mit der 1998 uraufgeführten Oper „Drei Schwestern“ des ungarischen Komponisten Peter Eötvös bringen die Salzburger Festspiele erneut ein bedeutendes Werk der neueren Musiktheatergeschichte auf die Bühne der Felsenreitschule. Als Vorlage diente Anton Tschechows gleichnamiges Schauspiel, doch brachen Eötvös und der Librettist Claus H. Henneberg dessen chronologische Erzählstruktur auf und schufen drei Sequenzen mit vorangestelltem Prolog, die jeweils auf eine der Hauptfiguren fokussieren. So entstand ein Werk, das, ausgehend von individuellen Schicksalen, existentielle Grundfragen des Menschseins behandelt und die oft unüberbrückbare Kluft zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, zwischen aussichtslosen Wünschen und der bitteren Realität aufzeigt. Durch Verschärfung dieser Existentialität angesichts eines alles bestimmenden Katastrophenzustands verhandelt Regisseur Evgeny Titov die Frage nach einem erfüllten Dasein und beantwortet sie ex negativo auf intensive, beklemmende Weise: Der Grund, warum ein solches nich.t gelingt, liegt vor allem in der eigenen Untätigkeit

Gefangen in einer zerstörten Gegenwart

Das Leben der titelgebenden drei Schwestern, Olga, Irina und Mascha, sowie ihres Bruders ist von Leere, Unzufriedenheit, unerfüllter oder nicht fühlbarer Liebe, fernen Hoffnungen und Sehnsüchten geprägt. Vor elf Jahren zogen sie in die Provinz, seitdem hoffen sie auf eine Rückkehr nach Moskau und damit eine Verbesserung ihrer Situation, denn die Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen vom Leben und dessen Realität reißt immer weiter auf. Bei Evgeny Titov findet die innere Katastrophe durch eine äußere, die bereits bei Tschechow und Eötvös mit in der Provinzstadt stationierten Soldaten und einem um sich greifenden Feuer angelegt ist, ihre Entsprechung. Etwas Schreckliches muss passiert sein, denn auf der von Rufus Didwiszus gestalteten Bühne, die wie eine Fortsetzung der Felsenarchitektur des Saales anmutet, ist Zerstörung omnipräsent: Eine Eisenbahnlinie erstreckt sich auf ihr, doch sie ist unterbrochen, die Gleise sind verbogen und nicht mehr befahrbar. Das Fundament aus Beton und Gestein ist, wohl von Explosionen, zerstört, in der Mitte sogar zur Gänze weggebrochen, sodass eine Art Durchgang, ein kleiner Raum des Schutzes innerhalb der völligen Destruktion entsteht. Auf der linken Seite befindet sich eine Tunnelöffnung, aus der einmal noch ein Wagen erscheint, doch er kommt nicht weiter. Auf dieser Strecke ist kein Fortkommen mehr möglich – erst recht nicht, da auf der anderen Seite statt eines Tunnels eine Wand aufragt und den Weg versperrt. An diesem Schauplatz von Zerstörung und Zerfall spielt die dreimal erzählte, sich jedoch nie wiederholende Geschichte, in der es ebenso keinen Weg nach vorne gibt. Die Figuren bewegen sich auf dem Trümmerfeld, doch so, wie die Eisenbahnlinie unterbrochen ist und niemanden mehr voranbringen wird, ist auch ihre Situation festgefahren, sie kommen nicht weiter. Das Schild mit der Aufschrift „Moskau“ sollte nach rechts weisen, doch eben dieser Weg ist versperrt – die Stadt der Hoffnung kann nicht erreicht werden. Diese in ihrer Wirkung beklemmende Szenerie verdeutlicht die aussichtslose existentielle Situation der Figuren und verstärkt sie, denn durch den auch äußeren Katastrophenzustand wird der Handlungsdruck noch größer. Die Figuren verbleiben aber in ihrer Aktionslosigkeit, bei allem Sehnen tun sie nichts, das sie tatsächlich voranbringen könnte. Das Ausmaß der Zerstörung, verstärkt durch das ausbrechende Feuer, noch mehr aber die Soldaten, die in der dritten Sequenz gar Waffen, Raketen und sogar eine Atombombe über das Trümmerfeld tragen, lässt unweigerlich Gedanken an gegenwärtige Kriegsereignisse aufkommen, doch bleibt dieser Bezug bei aller bildlichen Eindeutigkeit assoziativ. Titov gelingt es durch dieses aussagekräftige, in der Konkretion der historischen Situation aber offen gehaltene Konzept, eine Geschichte eindrücklich zu erzählen, jedoch zugleich eine Atmosphäre von so großer Allgemeinheit zu schaffen, dass eine existentielle Reflexion über innere wie äußere menschliche Zerstörung und Ausweglosigkeit entsteht. Zudem gelingt es ihm auf dramaturgischer Ebene, sowohl die großen Katastrophen, die besonders in der von Soldaten bekämpften Feuersbrunst eine beängstigende Wirkung haben, als auch intime Momente zwischen zwei Personen und ihre Parallelität mit anderen gleichzeitig geschehenden Aktionen und Konversationen überzeugend zu gestalten. Dadurch entstehen Kontraste, die die Intensität der verschiedenen Ängste, Sorgen und Hoffnungen deutlich machen, zudem aber auch die Absurdität mancher Szenen auf groteske Weise aufzeigen, etwa wenn Werschinin völlig gelassen um Tee bittet, nachdem Kulygin seiner Frau in clowneskem Hasenkostüm seine bleibende Liebe gestanden hat.

© SF/Monika Rittershaus

„Von allem bleibt nur Erinnerung…“

Eine Besonderheit, die Eötvös in der Bearbeitung von Tschechows Drama vornahm, war es, den Epilog an den Beginn zu stellen. Dadurch wird alles Nachfolgende zu einer Erinnerung, die Sequenzen sind Rückblenden und damit zugleich ein Einblick in die persönlichen Empfindungen und Eindrücke der Figuren. Das Geschehen erfährt eine Internalisierung und folgt so keinem externen Handlungsverlauf, sondern dem Innenleben der Akteure, das allzu oft im Verborgenen bleibt, auch und vor allem den Personen, die es betrifft, sogar ihnen selbst. Zugleich wird dadurch das Fazit zur Prämisse, für die die Aussagen der drei Schwestern zu Beginn der Oper ausschlaggebend und bezüglich ihres Charakters bezeichnend sind.

Ihre jeweiligen Denkweisen zeigen sich bereits zu Beginn, wobei es auch von Bedeutung ist, dass der Bruder Andrej in jenem noch nicht vorkommt. Gewissermaßen als Überschrift präsentiert sich Olgas Äußerung, es beginne nun ein neues Leben, von allem bliebe nur noch die Erinnerung. Angesichts der Grundstimmung des Werks veranlasst dies jedoch nur bedingt das Schöpfen einer neuen Hoffnung, wenngleich bei Titov aufgrund der engelhaften Erscheinung der drei Schwestern im Prolog die Möglichkeit eines jenseitigen neuen Lebens eröffnet wird. Zunächst folgt jedoch der Rückblick in eben jene Erinnerung. In den folgenden drei Sequenzen wird dreimal von den Geschehnissen desselben Tages berichtet, jedoch steht in jeder eine andere Person im Fokus. Sie alle blicken mit Bedauern auf die Vergangenheit, durch die sie erst erkennen, wie sehr sich ihr Leben zum Schlechteren entwickelt hat, und hoffen auf eine bessere, erfüllte Zukunft. So unterschiedlich ihre Vorstellungen auch sind, haben sie doch die Enttäuschung und die Unerfülltheit ihrer Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte, aber auch das Nichterkennen ihrer eigenen Verantwortung und die daraus folgende Untätigkeit gemein. In ihren Reaktionen auf diese Erfahrung von tiefster Unzufriedenheit unterscheiden sich die Figuren jedoch, wodurch das Werk zu einer Ergründung der unterschiedlichen Arten des Umgangs mit jenen Empfindungen wird. Durch die zugespitzte Charakterisierung sämtlicher Figuren, die Titov mit Christian Arseni als Dramaturgen und den äußerst expressiven Sängern eindrücklich herausarbeitet, werden sie zu Typen, die in ihrer Gesamtheit eine exemplarische Ergründung der menschlichen Existenz darstellen.

Liebe als Illusion eines Auswegs

Eine weitere Gemeinsamkeit der drei den Sequenzen zugeordneten Figuren ist, dass sie sich in komplizierten, ausweglosen Dreieckskonstellationen befinden, die maßgeblich zu ihrer Hoffnungslosigkeit und Unzufriedenheit beitragen. Irina, Hauptfigur der ersten Sequenz, findet sich zwischen dem romantischen, aber leidenden Baron Tusenbach, der seines bequemen Lebens des Müßiggangs überdrüssig ist, und dem beängstigenden Stabshauptmann Soljony, der unfähig zu gefühlvollen Liebesbekundungen, aber höchst eifersüchtig und besitzergreifend ist, wieder. Sie selbst ist unzufrieden mit ihrer Arbeit und sehnt sich ein besseres Leben herbei, konzentriert sich dabei jedoch vorrangig auf das Vernünftige, Pragmatische. Das Gefühl der Liebe ist ihr fremd, wie auch der Baron schmerzhaft erkennen muss, in ihrer Ehe sähe sie Pflicht und Treue als Ehefrau im Vordergrund. Irina zeigt ein erstaunliches Durchhaltevermögen, das aber zum Scheitern verurteilt ist, da es auf pragmatischen Lösungen gründet, die das Wesentliche ausblenden: ihr Innerstes. Vor ihrem tiefsten Wesen hat sie Angst, weshalb sie es fest verschlossen hält. Dadurch ist es ihr aber auch unmöglich, zu erkennen, dass der wahre Ausweg in ihrem Inneren zu finden wäre und nicht im Äußeren. Wie blind Irina somit in ihrer Suche ist, zeigt Titov eindrücklich am Ende des Stücks, wenn sie mit Farbe eine Tunnelöffnung auf die Wand malt und so mit äußeren, letztlich sinnlosen Mitteln der Illusion einer Zukunft erliegt. Auch ihre Hoffnung auf Besserung durch die Ehe wird zerstört, indem Soljony den Baron in einem Duell erschießt. Ihr Bruder Andrej, von dem die zweite Sequenz handelt, trauert hingegen seiner aussichtsreichen Vergangenheit nach, die er zugunsten seiner herrischen Ehefrau Natascha aufgegeben hat. Doch nicht nur sein eigenes Leben empfindet er als abstoßend, sondern auch die Erkenntnis, dass es keinen bemerkenswerten Menschen mehr gibt, sondern „lediglich gegessen, getrunken, geschlafen und dann gestorben“ wird. Seine Art des Umgangs ist das Festklammern an der illusorischen Hoffnung auf eine freie, von der Trägheit erlösende Zukunft. Illusion ist dies vor allem insofern, als er bei Natascha bleibt, einer exaltierten Frau, die ihren Mann mit dessen Vorgesetzten Protopopow betrügt und bei der es einen nicht verwundert, dass Andrej sie manchmal „unglaublich vulgär“ findet. In ihrer Kleidung, ihrem manierierten Verhalten, das auch das gelegentliche Verwenden des Französischen miteinschließt, erscheint sie als Vertreterin des „alten“, vermeintlich glorreichen Russlands. Dieses ist jedoch ebenso eine Illusion, die sie selbst aufrechterhält, und dabei nicht erkennt, wie sehr sie mit ihrer heuchlerischen, unterdrückerischen Art die gesamte Familie ruiniert. In der letzten Sequenz wird Maschas Schicksal geschildert. Sie ist tief emotional, aber unglücklich und gefangen, vor allem in ihrer Ehe mit dem kleinbürgerlichen Lehrer Kulygin, der sie wie eines seiner Schulkinder behandelt. Der General Werschinin bildet in ihren Augen das rettende Gegenteil: Er ist tief romantisch, edel und ebenso unglücklich in seiner Ehe, jedoch wie Mascha unfähig, diese zu beenden. Seine Liebesbekundungen und körperlichen Zuwendungen, mehr noch aber sein Vertrauen auf die „unglaublich schöne“ Zukunft der Welt faszinieren Mascha, doch als er sie letzten Endes verlässt, hinterlässt das Weichen dieses Hoffnungsschimmers eine noch größere Dunkelheit. Die Liebe zu Werschinin und ihre resignative Aussage des Prologs: „Wir bleiben zurück, unser Leben beginnt von vorne“ werden ihr Schicksal, denn: „Alles hat sein Ende.“

© SF/Monika Rittershaus

Die Sinnlosigkeit der Hoffnung?

Die dritte Schwester, Olga, erhält keine eigene Sequenz, ist aber in jenen der anderen präsent, denn ihr Leben ist Proexistenz. Während ihre Geschwister zu sehr in ihren eigenen Sorgen gefangen zu sein scheinen, erweist sie sich als mitfühlend und fürsorglich, wenngleich dies nicht immer auf Gefallen stößt. Zwar hegt auch sie den Wunsch, ein glückliches Leben mit einem Ehemann zu führen, doch scheint es, als wäre sie davon überzeugt, dass erst alles gut werden müsse, bevor ihr dieses Glück zuteil werden könnte. Ihre Haltung angesichts der Unzufriedenheit ist eine wartende, duldsam ertragende, die jedoch ebenso in Inaktivität resultiert. Ein drastisches Beispiel der Resignation ist der betrunkene Arzt, der nicht nur seine Fähigkeiten, sondern gar die Existenz von allem infrage stellt. Sein Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit ist das Eingeständnis der Sinnlosigkeit, die zu einem extremen Stoizismus verkommt, wie er mit seinem wiederholten „Tarara-bumbia“ („Alles einerlei!“) zum Ausdruck bringt. Auf besonders spannende Weise stellt Titov in seiner Inszenierung das Mütterchen dar, die alte, kranke Mutter der Geschwister. Inmitten des von Zerstörung, Krieg, Feuer und leidenden Menschen geprägten Desasters liegt sie in einem Krankenhausbett, angeschlossen an Infusionen und medizinische Geräte. Ihr Zustand verschlechtert oder verbessert sich entsprechend der um sie geschehenden Ereignisse. So scheint sie bei Werschinins hoffnungsvollen Worten neu aufzuleben, bis sie am Ende in sauberer Kleidung und ohne medizinische Hilfe von einer Schokoladentorte nascht. Diese Darstellung lässt ihre symbolische Bedeutung reflektieren, die sich in der Hoffnung identifizieren ließe, die stark geschwächt ist, aber durch lebensverlängernde Maßnahmen erhalten bleibt und immer wieder neue Kraft gewinnt. Womöglich steht sie gar für die menschliche Existenz angesichts von Krieg, Zerstörung und existentieller Unzufriedenheit als solche.

Eine blinde Suche nach der verlorenen Zeit

Ein das gesamte Werk durchziehendes Thema ist jenes der Zeit, das in Salzburg bereits durch das zerstörte Gleis symbolhaft aufgeworfen wird. Für alle Figuren brechen sowohl Vergangenheit als auch Zukunft weg, in beide Richtungen zeigt sich eine unüberbrückbare Kluft, die sie aufgrund innerer wie äußerer Hindernisse nicht überwinden können. Sie sind in existentieller Radikalität auf die Gegenwart zurückgeworfen, ohne jedoch zu erkennen, dass es jene ist, die zu gestalten wäre, um tatsächlich Veränderung herbeizuführen. So befinden sich alle in je eigener Weise auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der vergangenen wie der zukünftigen, nur dass sich am Ende nicht wie bei Proust in der vergegenwärtigenden Erinnerung ein Friedensschluss mit der Zeit einstellt. Selbst Olgas Aussicht auf den Beginn eines neuen Lebens erscheint, wenn es einen solchen denn überhaupt geben sollte, mehr als radikaler Abbruch, denn als tatsächliche Verbesserung des Bisherigen.

Das Motiv des Abschieds ohne darauffolgenden Neuanfang prägt die Grundstimmung des Werks. So wird auch Moskau, das weit mehr als die konkrete Stadt ist, zu einer Utopie der Hoffnung auf ein neues Leben, die aber eben eine solche bleibt: kein realer Ort mit besseren Lebensbedingungen, kein tatsächlich erreichbarer Zustand des größeren Glücks, sondern ein Nicht-Ort, der nur wirklich werden könnte, wenn die Charaktere sich ehrlich mit sich selbst und ihrer Wirklichkeit konfrontieren würden. Der Grat zur Jenseitsvertröstung ist schmal, auch der in den Prolog aufgenommene Ausspruch: „Unser Leid wird zur Freude werden für die, die nach uns kommen. Und sie werden sich mit Dankbarkeit an uns erinnern.“ gleicht mehr einem verzweifelten Festhalten an unrealistischen Aussichten als einer tatsächlichen Hoffnung.

© SF/Monika Rittershaus

Ein Festspiel der Countertenöre

Ein solch thematisch wie musikalisch anspruchsvolles Werk verlangt nach herausragenden Sängern, die von den Festspielen auch gefunden wurden. Die gesamte Besetzung überzeugte sowohl in ihrer darstellerischen Kraft als auch der gesanglichen Leistung, die rasch zwischen temporärer klanglicher Schönheit, an der russischen Sprachmelodie orientiertem Sprechgesang und expressiv-emotionalen Ausbrüchen zu wechseln hat. Im Zentrum standen dem Titel gemäß die drei Schwestern, für die Eötvös Countertenöre vorgesehen hat: Dennis Orellana zeigte mit hellem, zartem Klang, der für engelhaft anmutende Momente sorgte, die verletzliche Seite Irinas, während Cameron Shahbazi Mascha mit sinnlichen, dramatischen Tönen und warmem Timbre als romantische, gegenüber ihrem Ehemann auch resolute Frau zeichnete. Äußerst berührend gelang es ihm, den Schmerz Maschas nach dem Abschied von Werschinin zu verkörpern und in schluchzenden Klängen hören zu lassen. Aryeh Nussbaum Cohen verlieh Olga eine starke, unaufdringlich einnehmende Präsenz, seine Stimme ist äußerst klangvoll und abgerundet, wodurch er die einzige Schwester ohne eigene Sequenz dennoch immer wieder in den musikalischen Mittelpunkt rückte. Auch Kangmin Justin Kim als Natascha überzeugte vollends. Mit großer Freiheit schreckte er nicht vor maximaler Exaltiertheit zurück und bewies in den verzerrten, expressiven Stellen hohe Flexibilität und Sicherheit. Bei stets eindringlichem Klang verkörperte er Natascha als kontrollierende, animalische, durchaus angsteinflößende Figur, für die es genau dieses Maß an zu Übertreibung neigendem Ausdruck benötigt. Als Bruder Andrej war Jacques Imbrailo in hoher Ausdruckskraft und warmem Klang eine mehr als geeignete Besetzung, ebenso Mikołaj Trąbka als schwärmerischer, doch resignierender Baron Tusenbach. Ivan Ludlow ließ Werschinin als kontrollierten, dabei zugleich gefühlvollen Mann hören, sein Zusammenspiel mit Shahbazi gehörte zu den bewegendsten Momenten des Abends. Mit außerordentlicher Kälte und Strenge beeindruckte Anthony Robin Schneider als Soljony, seine stimmliche Präsenz und passend militärische Bestimmtheit in der Tonsetzung sorgte für eiskaltes Erschaudern. Auch Andrei Valentiy als unangenehmer Kulygin und Jörg Schneider als verzweifelnder Arzt boten eindrucksvolle Charakterportraits. Ein besonders grotesker Einfall Eötvös’, nämlich die Besetzung der Amme Anfisa mit einem tiefen Bass, wurde durch Aleksander Teliga darstellerisch wie gesanglich anrührend, manchmal auf kuriose Weise fast amüsant umgesetzt. Mit dem Klangforum Wien kam auch die anspruchsvolle, sehr logisch konzipierte und doch in ihrer expressiven Wirkung leicht nachvollziehbare Musik mit großer Präzision, Feinheit und Varianz im Ausdruck zum Klingen. Dabei überzeugte vor allem das 18-köpfige Ensemble unter der Leitung von Hauptdirigent Maxime Pascal im Orchestergraben. Dieser leitete mit unaufgeregter Sicherheit und großer Aufmerksamkeit für die feinen orchestralen und gesanglichen Details sowie die zahlreichen, auch parallel stattfindenden Klangeffekte. Das Orchester hinter der Bühne unter Alphonse Cemin blieb an diesem Abend sehr dezent, was an der Akustik der Felsenreitschule liegen oder aber auch in diesem Werk beabsichtigt sein mag. Sehr effektvoll gelang die atmosphärische Verstärkung der allgemeineren, dramatischen Szenen, vor allem die Bedrohung durch Feuer und Krieg.

Veränderung durch Verantwortung und Handeln

Obwohl das Stück, seinem Titel entsprechend, die Geschichte von drei Schwestern und den Menschen in ihrem Umfeld erzählt, handelt es sich doch um eine allgemeine Ergründung der Frage, wie ein erfülltes Dasein erreicht werden kann, worin dieses überhaupt besteht und wie damit umzugehen ist, wenn zwischen den gehegten Hoffnungen und der tatsächlichen Lebensrealität eine schmerzhafte Diskrepanz besteht. Die „Drei Schwestern“ zeigen in der Vielfalt der konkreten Reaktionen vor allem auf, welche Weisen des Umgangs dabei nicht zur Erfüllung führen: jene, die keine tatsächlichen Re-Aktionen darstellen, da der entscheidende Punkt, nämlich wirklich aktiv zu werden und etwas zu ändern, nie erreicht wird und sich die Erkenntnis, dass die erhoffte bessere Welt in nichts Äußerem, in keiner aus reiner Pflicht gelebten Beziehung, an keinem Ort, schon gar nicht Moskau, beginnt, sondern in einem selbst, nie einstellt. Evgeny Titov gelingt es mit seiner verschärfenden Inszenierung, diese Dynamik mit beklemmender Wirkung deutlich zu machen, indem er den inneren Katastrophenzustand auf einen äußeren, gesamtgesellschaftlichen ausweitet und damit zugleich die tatsächliche Unmöglichkeit der Verbesserung und Erfüllung von Hoffnungen aufgrund von Krieg, Zerstörung und Unterdrückung anspricht. Wie bereits im vergangenen Jahr mit Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ bewiesen die Salzburger Festspiele durch diese Aufführung, dass eine ihrer größten Stärken in der Aufführung von Werken des zeitgenössischen Musiktheaters liegt, die noch nicht selbstverständlicher Bestandteil des Repertoires geworden sind, es aber, wenn es auf diesem hohen Niveau geschieht, werden sollten.

Elena Deinhammer, 19. August 2025

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner DAS OPERNMAGAZIN


Drei Schwestern
Peter Eötvös

Salzburger Festspiele 2025

Rezension der Premiere 8. August 2025

Regie: Evgeny Titov 
Dirigat: Maxime Pascal 
Klangforum Wien