Dresden, Konzert: „Messiaen: Turangalîla-Symphonie“, Staatskapelle unter Nicholas Collon

In seiner Zeit als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra von 1924 bis 1949 hat sich der russische Musiker Sergej Kussewitzki (1874-1951) als ein leidenschaftlicher Förderer der zeitgenössischen Musik betätigt. Als Gründer des Berkshire Music Center in Tanglewood hatte er die finanziellen Mittel zur Verfügung, um aufstrebende Komponisten fördern zu können. Vor allem war er für seine Neugier und Offenheit gegenüber neuen musikalischen Strömungen bekannt. Durch sein breites Netzwerk war Kussewitzki auch über die Pariser Musikszene informiert und war so auf die Arbeiten des jungen Franzosen Olivier Messiaen (1908-1992) aufmerksam geworden. Gegen Ende des Jahres 1945 forderte er den international kaum bekannten jungen Messiaen auf, für das Boston Symphony Orchestra ein Stück nach eigener Inspiration ohne Vorgaben und ohne Termindruck zu komponieren. Zunächst arbeitete Olivier Messiaen an einer konventionellen viersätzigen Symphonie, um Kussewitzkis Wunsch zu erfüllen. Dann entschied er sich, das Auftragswerk als Mittelstück unter dem Titel „Turangalîla-Symphonie für Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester“ mit einer erweiterten Thematik in seine bereits im Entstehen befindliche Trilogie zum Thema „Tristan und Isolde“ einzugliedern. Der erste Teil „Harawi für Sopran und Klavier“ war bereits 1945 komponiert, während der dritte Teil „Cinq Rechants für zwölf Solostimmen“ im Jahre 1949 folgte.

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Der Turangalîla-Begriff ist eine Wortkombination Messiaens aus altindischen Benennungen. Im Sanskrit bedeutet Turanga wörtlich „rennendes Pferd“ und wurde vom Komponisten im Sinne von „Tempo“ verwendet, während lîla „das Spiel“ besagt. Olivier Messiaen komponierte zwischen 1946 bis 1948 eine aus zehn Sätzen bestehende Partitur. Zunächst verwendete er die vier ursprünglich entstandenen Teile der Partitur, die er als ersten, vierten, sechsten bzw. Finalsatz einordnete. In der Folge schrieb er die auf Rhythmen der indischen, indonesischen sowie peruanischen Volksmusik basierenden Sätze drei, sieben und neun, die den Titel „Turangalîla“ erhielten. Zum letzten wurden die Sätze zwei, fünf und acht komponiert. Bis zum Jahre 1990 hat Olivier Messiaen unentwegt noch an der Komposition gearbeitet und vor allem Erfahrungen aus Einspielungen sowie Aufführungen des Werkes eingearbeitet.

Die Aufführung dauert etwa achtzig Minuten. Neben dem vor allem durch Schlagzeug stark erweitertem Orchester brauchte es neben einem Konzertflügel, eine Celesta, ein Tastenglockenspiel und vor allem ein mysteriöses elektronisches Tasten-Instrument namens „Ondes Martenot“.

Bei dem Soloinstrument Ondes Martenot, zu Deutsch „Martenot-Wellen“ handelt es sich um eines, neben dem Theremin des Russen Lev Theremin (1896-1993) der ersten elektronischen im Konzert eingesetzten Musikinstrumente. Das 1928 von dem Cello-Musiklehrer und Radiobastler Maurice Martenot (1898-1980) vorgestellte Tasteninstrument hat neben der Tastatur eine Saite, auf der mit einem Ring stufenlose Töne hervorgelockt werden können. Diese unterschiedlichsten akustischen Schwebungen erzeugen auch emotionale Klangwirkungen beim Zuhörer. Man sagt dem Gerät die Möglichkeiten der Erzeugung von Klangeffekten nach, die ansonsten nur von menschlichen Stimmen erschafft werden können. Die britische Musikerin Cynthia Millar gilt als die „unangefochtene Herrscherin“ der Ondes Martenot wobei die Turangalîla-Symphonie einen besonders breiten Raum in ihrer Konzerttätigkeit einnimmt. Seit ihrem ersten Einsatz bei den BBC-Proms 1986 hat sie die Solopartie Messiaens etwa 200-mal weltweit mit unterschiedlichsten Orchestern und den besten Dirigenten interpretiert.

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Für den 1957 geborenen Pianisten Pierre-Laurent Aimard wurde das Konzert zu einer atemlosen Demonstration seiner pianistischen Athletik, wenn er während der gesamten Spielzeit der Matinee schnell und atemlos zu spielen hatte. Als Schüler von Messiaens zweiter Ehefrau Yvonne Loriod (1924-2010) hatte er bereits früh einen musikalischen und persönlichen Bezug zu dem Komponisten.

Die zehn Sätze des Werkes sind, sicher an Wagner angelehnt, durch vier Hauptleitmotive miteinander verbunden.

Unser Konzertbesuch der „Turangalîla-Symphonie“ hatte eine unheimliche, in gewisser Weise einzigartige Fähigkeit gleichermaßen zu bezaubern und zu entwaffnen. Es war schwer, sich nicht von den schnellen strategischen Veränderungen der Tonschöpfung mitreißen zu lassen: in einem Moment streichelte es die Ohren, im nächsten verwirrt er sie.

Nicholas Collon weckte im Eröffnungssatz mit einer eckigen, energischen Geste und führte zur ersten Äußerung des „Statuen-Motivs“ in den tiefen Blechbläsern. Die Musik dehnte sich, verdichtete sich wieder, prallte ab und spiegelte sich in sich selbst weiter. Immer erfolgte das in unvorhergesehener Weise. Pierre-Laurent Aimard ging mit Tremolos bis weit in die oberen Register des Klaviers. Schichtweise überlagerte Blechbläser-Intonationen beendeten den eruptiven Einleitungssatz.

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Der zweite Satz „Chant d´amour“ feierte die Liebe, voller Leidenschaft und Energie.

Der dritte Satz „Turangalîla I“ ist ein rhythmisch-komplexer Satz mit viel Perkussionseinsatz. Die Sätze drei, sieben und neun tragen jeweils den Titel „Turangalîla“ und waren die klanglich beeindruckendsten Momente der Aufführung. Die phonetische Vielfalt wurde durch farbenfrohe Kombinationen der vielfältigen Schlagwerkkombinationen erreicht und durch Rhythmen vorangetrieben, die von der fernöstlichen und südamerikanischen Musik inspiriert waren. Die Soloklarinette von Wolfram Große wurde im dritten Satz eindringlich hervorgehoben. Der heikle und recht schrille Klaviersatz bestimmte die beiden weiteren „Turangalîla-Sätze.“

Lyrisch ausdrucksvoll präsentierte sich der vierte Satz „Chant dʼamour“, während der fünfte Satz „Joie du sang des étoiles“ die Freude am Leben feierte.

Den sechsten Satz „Jardin du Sommeil d´amour“ mit seiner surrealen Fantasie, die immer wieder vom Ruf der Nachtigall unterbrochen war, gestaltete das Orchester zu einem Herzstück des Werkes. Die schönen Soli des Klarinettisten Wolfgang Große und der Flöte Andreas Kißlings trugen zur mystischen Stimmung des Satzes bei. Sie boten dem Hörer Zuflucht mit ihrer Erinnerung an den zweiten Tristan-Akt. Der Rauschcharakter der „Ondes Martenot“ kam mit den ätherischen Effekten für das zeitgenössische Ohr den Soundeffekten von Horrorfilmen gefährlich nahe, obwohl mit dem ruhig verträumten Satz „Jardin du someil dʼamour“ eine mystische Liebe in einem verträumten Garten beschrieben werden sollte. Messiaen, obwohl noch verheiratet, hatte zu dieser Zeit ein Verhältnis mit einer jungen Pianistin begonnen. Der achte, von den „Turangalîla II und III“ eingefasst Satz „Développement de lʼamour“ sollte uns für die Entwicklung und Reifung dieser Liebe einnehmen.

Auch deshalb war der neunte Satz „Turangalîla III“ noch ein weiterer voller Energie.

Das Finale gestaltete Collon freudig und jubelnd. Er stürzte seine Hörer in einen aufgekratzten Optimismus. Man hatte das Gefühl, am Ende eines Marathons zu stehen, als das Werk in einer blendend hellen Supernova von Orchesterfarben endete.

Nicholas Collons Dirigierstil mit großen Bewegungen und sichtlich wenig Kommunikation mit einzelnen Instrumentengruppen hatte trotzdem der Wirkung kammermusikalischer Teile keinen Abbruch beschert.

Den Musikern der sächsischen Staatskapelle war es mit Nicholas Collon gelungen, das umfangreiche und moderne Werk aus einem Guss erscheinen zu lassen und die überwiegend erfahrenen Hörer der Sonntags-Vormittags-Konzerte in das Abenteuer einzubeziehen, so dass diese das Orchester, die Solisten auch der kleineren Partien, vor allem aber den Dirigenten für sein Orchester-Debüt anerkennend-heftig feierten.

Thomas Thielemann, 9. Juni 2024


Olivier Messiaen: „Turangalîla-Symphonie für Klavier, Ondes Martenot und großes Orchester“

Matinee des 11. Symphoniekonzerts der Sächsischen Staatskapelle Dresden
am 9. Juni 2024
in der Semperoper Dresden

Pierre-Laurent Aimard: Klavier
Cynthia Millar: Ondes Martenot
Sächsische Staatskapelle Dresden
Dirigent: Nicholas Collon