Dresden, Konzert: „Ravel, Debussy“, Lang Lang

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Mit der Sächsischen Staatskapelle und den Impressionisten Maurice Ravel (1875-1937) und Claude Debussy (1862-1918) verbinden wir nur wenige Konzerterlebnisse ussy“. Im Mai 2017 spielte der damalige Capell-Virtuose Daniil Trifonov Ravels „G-Dur-Klavierkonzert“ und im Jahre 2021 hatte es mal ein Konzert von Myung-Whun Chung mit den Impressionisten gegeben. Aber ansonsten waren die Franzosen allenthalben als Füllstoff in den Programmen zu hören. Bekannt ist das Orchester vor allem mit seinen hervorragenden Wagner- Srauss– und Brucknerinterpretationen. Offenbar war aber der Interims-Direktor und Dramaturg der Sächsischen Staatskapelle Christoph Dennerlein der Auffassung, dass man den Orchestermusikern wieder einmal die Gelegenheit verschaffen sollte, auch dieser Facette ihres Könnens einen breiteren Rahmen zu geben. Nach den Symphoniekonzerten in der Semperoper wird deshalb das Orchester Gastkonzerte mit Kompositionen der beiden französischen Impressionisten im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele sowie in Wien und Hamburg bestreiten.

Die Leitung der Konzerte hat die seit dem 3. Symphoniekonzert beim Orchester bestens eingeführte Mirga Gražinytė-Tyla übernommen.

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Wir hatten die Möglichkeit, die Matinee zum Beginn dieser Konzert-Serie zu erleben.

Wer sich derart fantasievoll in die sechs bis siebenjährigen Kinder seiner Freunde Ida und Cipa Godepski einfühlen konnte, musste entweder selbst Kindskopf geblieben sein oder er war ein großer Kinderfreund wie Maurice Ravel. Bei Einladungen hielt sich der kleingewachsene Dandy ohnehin lieber beim Nachwuchs, als bei den Gastgebern auf. Für die Kinder der Godepskis Mimi und Jean vertonte Ravel im Jahre 1908 fünf Geschichten aus der Märchensammlung „Meine Mutter, die Gans“ des Charles Perrault (1628-1703) für eine Aufführung mit Klavier zu vier Händen. Mit den fünf Kinderstücken verlieh er seinen Empfindungen für das kindliche Niveau den gebührenden künstlerischen Ausdruck. Obwohl das „Ma mère l´oye“ einfach gestrickte Musik war, trauten sich die beiden Kinder eine öffentliche Uraufführung nicht zu, so dass Schüler der bedeutenden Pianistin Marguerite Long (1874-1966) einspringen mussten. Vier Jahre später brachte Ravel eine Orchestrierung der fünf Miniaturen als Ballett und eine zweite Instrumentation für den Konzertsaal heraus. Die Musiker der Staatskapelle breiteten zur Einstimmung in das Konzert unter dem Dirigat der Mirga Gražintė-Tyla die fünf Stücke mit phantastischem klangfarblichen Schliff aus und schufen einen Zaubergarten der emotionalen Tiefe, die das Werk über sein miniaturhaftes Ausmaß hinaus in den Rang einer großen Komposition hob.

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Parallel komponierte Maurice Ravel innerhalb der Jahre 1929 bis 1931 seine beiden Konzerte für Klavier und Orchester. Das „D-Dur-Konzert für die linke Hand“ war für den aus Wien stammenden Pianisten Paul Wittgenstein (1887-1961) bestimmt, der im ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verlor. Dessen Familie konnte dank ihrer finanziellen Situation Aufträge an 22 zum Teil namhafte Komponisten über insgesamt 35 „Klavierwerke für die linke Hand“ vergeben. Richtig überdauert hat von diesem Wust aber nur das D-Dur-Konzert Ravels seine Entstehungszeit. Nur ihm war dank der Klangfülle die Vorspiegelung der Illusion eines zweihändigen Spiels gelungen. Dem vom Schicksal Wittgenstein emotional angegriffenen Ravel war Musik gelungen, die zwischen wehmütiger Melancholie und trotziger Dramatik wechselte sowie unheimliche Düsternis mit gleißend-farbenprächtigem Licht umfasste, aber mit einer Hand zur Wirkung zu bringen ist.

In „unserem G-Dur-Konzert“ verarbeitete Ravel Eindrücke einer Amerika-Tournee. Eine Mischung von melodischem Charme sowie technischer Raffinesse spiegelte Ravels Faszination für den Jazz und den Blues wieder. Ihre Integration in seine Orchestermusik wollte der Komponist auf einer größer angelegten Gastspielreise selbst vorstellen. Er übte auch verbissen Etüden, um sein Klavierspiel zu vervollkommnen. Zwar konnte er das Konzert bis zum Abschluss komponieren, die Musik aber nicht mehr empfinden. Seine Aphasie- und Amusie-Beeinträchtigungen machten sich bereits spürbar, so dass auch hier wieder Marguerite Long helfen und die Uraufführung übernehmen musste.

Wir aber hatten Lang Lang:

Die Art, wie er das Stück anging und sein Spiel erinnerten uns an die ersten Begegnungen mit dem jungen Talent, als Christoph Eschenbach am Beginn des Jahrtausends den in Deutschland noch wenig bekannten Pianisten mit nach Bad Kissingen brachte. In der von der Gründungs–Intendantin Kari Kai-Wolfsschläger geprägten offene Atmosphäre des „Kissinger Sommers“ schien sich der kaum Zwanzigjährige sofort wohl zu fühlen. Seine englischen Sprachkenntnisse waren noch so mäßig, wie die unseren, so dass es unkomplizierte Kontakte gab. Er hatte mit der unkonventionellen Intendantin ein regelrecht familiäres Verhältnis aufgebaut, das dem Vernehmen nach noch immer besteht.

Das lebhafte, von Ravel in Amerika aufgesammelte Thema des ersten Satzes „Allegrament“ nahm Lang Lang mit fast jugendlicher Freude auf, baute die Blues- und Jazzelemente organisch in sein durch klassische Formen geprägtes Klaviersolo ein. Zwischen ihm und den Musikern der Staatskapelle baute sich eine energische und spielerische Wechselbeziehung auf, an der offenbar auch Frau Gražintė-Tyla sichtlich Freude hatte.

Die langsame , außerordentlich gefühlsbetonte Melodie des „Adagio assai“ entfaltete der Solist mit seltener Schönheit und einer tiefen Empfindung für das Gefühlsleben Ravels. Der Kontrast zur Überschwänglichkeit der umgebenden Sätze wurde vom Orchester mit hoher Sensibilität aufgenommen und begleitet.

Wie aus einer Trance aufgewacht, kehrte Lang Lang mit dem finalen „Presto“ zu den hochenergetischen, rassig-rhythmischen Formen des Kopfsatzes zurück. Eine Zirkusatmosphäre entstand und er nutzte seine technische Perfektion für eine vollendete Ausarbeitung der skurrilen Einfälle Ravels. Eine Situation, die auch dem Orchester die Möglichkeit zu fast absonderlichen Reaktionen auf die Interaktionen des Solisten verschaffte und zu einem verblüffenden Schluss führte. Das war mitreißende, fesselnde, brillante Musik, deren Herausforderung von den Beteiligten genossen worden war.

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Für die begeisterten zum Teil stehenden Ovationen bedankte sich Lang Lang mit Claude Debussys „Clair de Lune“.

Das Einzige, was das Erlebnis hätte verbessern können, wäre gewesen, wenn wir das Klavierkonzert als letzten Programmpunkt nach „La mer“ und „ Daphnis et Chloé“ hätten hören können.

So mussten die Zuhörer nach der Pause auf die irdische Ebene zu Claude Debussy (1862-1918) heruntersteigen und im zweiten Teil des Konzertes mit „La mer“, jene drei symphonischen Skizzen hören, mit denen der Musikkritiker Debussy die Dominanz des Erbes Beethovens überwinden und seine frühere überbordende Begeisterung für Wagner entschuldigen wollte. Diese damaligen Überlegungen sind für das heutige Publikum kein Thema mehr und sein „La mer“ aus den Jahren 1903 bis 1905 ist zu einem der wichtigsten Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts geworden.

Mirga Gražinytė-Tula zeigte, welche existenziellen Ausdrucksregionen Debussy in seinem Meisterwerk abgesteckt hatte. Bei ihrer Interpretation  des „La mer“ gingen analytische Kraft, präzise Artikulation und federnde Energie eine ideale Synthese ein. Auch zeigte sie, was an Akkuratesse, Flexibilität und Klangkultur mit der Sächsischen Staatskapelle zu erreichen ist, wenn sich Dirigentin und Orchester aufeinander einlassen. Ihr Umgang mit den zahlreichen und prägnanten Themen wirkte frei, obwohl sich einige der Ansätze durch das gesamte Werk verfolgen ließen. Ihre Freude am Ausloten der Entwicklungsmöglichkeiten der Ableitungen, ohne sich strenger Durchführungen verpflichtet zu fühlen, war ebenso offensichtlich, wie der gekonnte Wechsel der vorantreibenden Tempi mit den eleganten Verzögerungen. Gewissenhaft war auch ihre Feinarbeit an der zum Teil recht vertrackten Rhythmik und in der Instrumentation. Wenn Hörner, Flöten und Harfe am Beginn des Schlusschorals im ersten Satz eine raffinierte Mixtur boten, war das schon großartig.

Das grandiose Zusammenwirken der Sächsischen Staatskapelle mit Mirga Gražintė-Tyla setzte sich auch beim letzten Stück des Konzertes, der Suite Nr.2 „Daphnis et Chloé“ von Maurice Ravel fort. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich lieber das ursprünglich angekündigte „La Valse“ gehört hätte. Mit „La Valse“ hatte Ravel die Traumata seiner Weltkriegserlebnisse verarbeitet, während mit dem „Danse générale“ der Suite Nr. 2 nur sein Frust über die „Balletts russes“ abgearbeitet wurde. Denn auf allem wo Maurice Ravel drauf steht, steckt eine Geschichte dahinter: Für Sergej Diaghilews (1872-1929) „Balletts russes“ komponierte Ravel um das Jahr 1910 nach dem spätantiken Liebesroman „Hirtengeschichten von Daphnis et Chloé“ des Longos von Lesbos (2. oder 3. Jahrhundert) eine Ballettmusik. Nachdem bereits die Vorbereitung der Uraufführung für die Beteiligten wegen Ravels vertrackter Musik zur Tortur geworden war, erhitzte zur gleichen Zeit das Debussys Skandal-Ballett „Prélide à l’aprrès-midi d’un faune“ die Gemüter des Pariser Publikums. Der Uraufführung des Balletts war im Schatten des Skandals kein Erfolg beschieden, so dass Ravel mit der Auskoppelung zweier Suiten seiner Partitur auf dem Konzertpodium einen gebührenden Erfolg sichern wollte. Die 1913 veröffentlichte zweite Suite umfasst den Schlussteil des Balletts.

Mit dem reduziert beginnenden „Sonnenaufgang“ zogen die Musiker ihr Publikum in ihre Auslegung der antiken Liebesgeschichte. Alles schien zu schweben und zu fließen. Aus Motivkeimzellen entwickelten sich durch stetige variantenreiche Wiederholungen große Klanggebilde, Tonfolgen tauchten auf und vergingen nach wenigen Takten. Im großen Orchester gab es in den Folgesätzen Glanzleistungen, detaillierte Raffinesse und Sinnlichkeit bis zum Äußersten. Mit harmonischer Dichte sowie drängender Spannung führte Mirga Gražintė-Tyla das Orchester mit einer gebremsten Eleganz und äußerster Perfektion ohne die Spannung zu verlieren.

Im finalen „Danse générale“ gelang ihr, die wild auffahrenden  Motive des noch immer beleidigten Ravels in exzessive Klangbilder zu verwandeln, die das Orchester scheinbar endlos steigern konnte. Dennoch blieben die Abstufungen sauber und die Klänge vermischten sich nicht unkontrolliert. Bis zum letzten Ton verharrten die klaren und scharfen Konturen voneinander abgesetzt.

Thomas Thielemann, 20. Mail 2024


Matinee des 10. Symphoniekonzerts der Saison 2023/2024

19. Mai 2024 in der Semperoper Dresden.

Maurice Ravel:
Ma mère l ‚Oye
Klavierkonzert G-Dur

Claude Debussy:
La mer

Maurice Ravel:
Daphnis et Chloé“- Suite Nr. 2

Dirigentin: Mirga Gražinytė-Tula
Solist: Lang Lang, Klavier
Sächsische Staatskapelle Dresden