Peer baut ein IKEA-Haus
Der schwedische Choreograf Johan Inger ist in Dresden kein Unbekannter – jetzt kam sein 2017 in Basel uraufgeführtes Ballett Peer Gynt als Deutsche Erstaufführung in der Semperoper heraus und wurde vom Premierenpublikum am 5. 6. 2022 frenetisch akklamiert. Das erstaunt, erzählt Inger doch weniger die Geschichte nach Ibsens Drama mit dem Titelhelden als Abenteurer, der die Welt durchstreift, sich schuldig macht und am Ende geläutert zu seinen Wurzeln zurückkehrt, sondern eine sehr eigene und eigenwillige Version. Diese behandelt mehr seine Biografie als Tänzer und Choreograf mit wichtigen künstlerischen Stationen wie dem Nederlands Dans Theater oder dem Cullberg Ballet Schweden. Seine erste und entscheidende Begegnung mit Mats Ek geschah bei dessen Stück Gamla Barn, was seine Abkehr vom klassisch-akademischen Ballett markiert. Inger zitiert es in einer Szene und lässt den Choreografen sogar als Figur auftreten (Francesco Pio Ricci).
Ähnlich vielfältig wie die Choreografie ist die musikalische Folie, die neben der Schauspielmusik von Edvard Grieg auch Ausschnitte aus Tschaikowskys Nussknacker und Bizets Carmen enthält. Die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Thomas Herzog, der Sinfoniechor Dresden und der Extrachor der Semperoper (Einstudierung: Jonathan Becker) liefern eine gediegene Interpretation der Musik, zu der auch Stefanie Knorr beiträgt, die Solveigs Gesänge mit klarem Sopran und lyrischer Zartheit vorträgt.
Das Estudio de Dos (Curt Allen Wilmer/Leticia Gañán) hat die Bühne links und rechts mit schwarzen Blöcken eingefasst, aus denen Bildtafeln gezogen werden, welche die einzelnen Schauplätze in naiver Manier illustrieren – Häuser, Interieurs, Landschaften. Die Kostüme von Catherine Voeffray dienen der Charakterisierung der Personen, sind rustikal und derb ländlich.
Das Geschehen beginnt mit der Konfrontation Peers mit seiner Mutter Aase, die von Casey Ouzounis en travestie wie eine Wilde Grete dargestellt wird, was die unerbittliche Strenge der Figur plastisch umreißt. Christian Bauch ist ein schlaksiger Peer, der seine Szenen mit expressivem Nachdruck ausfüllt, leider oft auch unverständlich grölen muss und den Abstieg des Helden zum verkommenen Alkoholiker bezwingend darstellt. Die Serie von Peers Untaten beginnt bei einer Hochzeit, wo er die Braut Ingrid (Svetlana Gileva sehr einprägsam) entführt und der Bräutigam (Václav Lamparter) allein und verzweifelt zurückbleibt. In der Welt der seltsamen Trolle, denen Inger einen bäuerlich-drastischen Bewegungsduktus verordnet hat, lernt Peer Die Grüne (Zarina Stahnke) kennen, die ihn mit erotisch lasziver Aura verführt. Später wird sie ihn mit dem gemeinsamen Baby im Kinderwagen konfrontieren, was zu einer erregten Auseinandersetzung zwischen beiden führt. Dann will Peer zu seiner Jugendliebe Solveig zurückkehren und für sie ein Haus bauen, wofür IKEA Pakete mit den erforderlichen Bauteilen liefert. Zuvor aber drängt es ihn, seine sterbende Mutter aufzusuchen – schüttelnde, wackelnde, zuckende und hopsende Bewegungen bieten hier ein gebührend skurriles Spektrum.
Der 2. Akt beginnt mit einem sportiv eleganten Männertanz, dessen Ästhetik man sich an diesem Abend noch öfter gewünscht hätte. Danach gibt es ein Kabinettstück mit Drei Tänzerinnen beim Vortanzen – herrlich komisch Jenny Laudadio, wild-exzessiv Nastazia Philippou und sinnlich lockend Ayaha Tsunaki. Letztere, Anitra, gewinnt den Wettbewerb und Peer, der sich inzwischen wie ein Kaiser fühlt und eine Krone trägt, folgt ihr in die spanische Heimat, wo sie zum Entr’acte aus Carmen Flamenco tanzt, ihn aber dann verlässt. Unaufhaltsam vollzieht sich Peers Abstieg, lässt ihn gar zum Mörder werden – eine brutal-naturalistische, ausufernde Szene. Die Schatten der Vergangenheit holen Peer ein – Die Grüne mit dem Kinderwagen, Anitra, der Krumme (stark: Jón Vallejo), der wie ein Doppelgänger auftritt, und schließlich Solveig. In ihrem Schoß kann er schließlich ruhen – für immer.
Bernd Hoppe, 9.6.2022