Dresden, Ballett: „Romeo und Julia“

Von Prokofjews Ballett Romeo und Julia gibt es mehrere legendäre Choreografien, man denke nur an jene von John Cranko, Kenneth MacMillan und John Neumeier. So stellt jede neue Deutung eine enorme Herausforderung an deren Schöpfer dar. In Dresden hat sich der Associate Choreographer des Semperoper Balletts David Dawson dieser Aufgabe gestellt und der Compagnie einen immensen Erfolg beschert. Lange nicht hat man deren Tänzerinnen und Tänzer mit solcher Hingabe auf der Bühne gesehen – sie alle wurden am Ende der 2. Aufführung am 8. 11. 2022 neben den Solisten vom Publikum anhaltend gefeiert.

(c) Jubal Battisti

Zu sehen war die Premierenbesetzung mit dem Traumpaar Ayaha Tsunaki und Julian Amir Lacey in den Titelrollen. Die Geschichte der jungen Liebenden stellen beide mit stärkster Intensität und einem überwältigenden Gefühlsreichtum dar. In ihren Szenen paaren sich Kraft und Anmut, beginnend mit der ersten Begegnung auf dem Maskenfest, wo sie beim Anblick des Anderen so fasziniert sind, dass sie unbeweglich verharren. Die Julia der Japanerin ist apart, voller Anmut, Grazie und körperlicher Leichtigkeit, dabei im Wesen selbstbewusst und stark. Der smarte Amerikaner ist ganz in Weiß der umschwärmte  Jüngling Veronas. Neben seiner sinnlichen Aura besticht der Tänzer mit einer glänzenden Technik, die sich besonders in brillanten Drehungen und schnellen Pirouetten zeigt. Dawson hat für die beiden Solisten wunderbare Duos in neoklassischem Stil choreografiert – so in der berühmten Balkonszene, in der beide im Überschwang des Gefühls fließend und schwebend leicht dahin gleiten. Nicht weniger überzeugend ist die berührende Abschiedsszene des Paares vor Romeos Verbannung und wohl jeder Besucher war ergriffen vom tragischen Finale, wenn beide den Liebestod sterben. Wie eine Gekreuzigte hält Romeo die vermeintlich Tote in seinen Armen, bis er verzweifelt zum Gift greift. Die erwachende Julia sieht ihn noch lebend, aber es ist ein kurzer trügerischer Moment. Mit seinem Dolch setzt sie ihrem Leben ein Ende. Dawson verzichtet  auf den in manchen Aufführungen gezeigten versöhnlichen Schluss, den er als Illusion empfindet – das im Tode vereinte Paar ist ein starkes Bild genug.

Neben den Protagonisten gibt es weitere glänzende Leistungen, vor allem von Romeos Freunden Mercutio (Jón Vallejo) und Benvolio (Alejandro Martínez). Beide sieht man auch in einer innigen Liebesbeziehung, wie man es so deutlich bislang in keiner Deutung erlebte. Gemeinsam mit Laceys Romeo bilden sie ein Trio der Superlative. Köstlich ist das scherzhafte Spiel der drei mit Julias Amme, die Jenny Laudadio mit reschem Auftreten gibt. Zu den Höhepunkten der Aufführung zählen die von Jonathan Holby betreuten Kampfszenen von berstender Spannung. In der Auseinandersetzung mit Tybalt (Marcelo Gomes fies und homophob) überwältigt Vallejo mit darstellerischer wie tänzerischer Klasse, lässt aus provozierendem Scherz und übermütigem Spiel bitteren Ernst werden. Hinterrücks wird er von Tybalt gemordet – wie in einem Totentanz ist er mit Romeo, dem seine eigentliche Sehnsucht galt, vereint. Romeo rächt seinen Freund und erstickt Tybalt. In pathetischer Schmerzensgeste über den Tod des Verwandten macht Sangeun Lee als Lady Capulet in blutroter Robe aus dem kurzen Auftritt ein Ereignis. Erschütternd auch die erste Szene in der Gruft, wenn die trauernden Capulets die aufgebahrte Julia umgeben wie eine Pietà-Gruppe.

(c) Jubal Battisti

Dawsons choreografischer Einfallsreichtum offenbart sich zudem in den vitalen Volksszenen auf dem Marktplatz, wenngleich der Ort Verona nicht explizit genannt wird. Ausstatter Jérome Kaplan hat dennoch eine stilisierte italienische Renaissance-Architektur in den Farben Schwarz, Grau und Weiß entworfen, deren Wände, Emporen, Bögen und Treppen in marmoriertem Dekor eine stimmungsvolle, strenge Atmosphäre ergeben, den Tänzern aber viel Raum lassen. Ästhetisch sind Kaplans Kostüme mit langen Kleidern aus leichten, schwingenden Stoffen für die Damen und hellen, luftigen Anzügen für die Herren.

Der Erfolg der Neuproduktion ist nicht zuletzt der Sächsischen Staatskapelle Dresden zu danken, die unter Leitung von Benjamin Pope den ganzen Reichtum von Prokofjews Musik mit bestechender Klangkultur ausbreitet. Faszinierend werden die Kontraste der Komposition modelliert – der schwelgerische Rausch, die träumerisch zarten Gespinste, die stampfende Rhythmik, die aggressiven Dissonanzen. Der Abend ist ein Fest für alle Sinne und hätte einen Tanz-Oscar verdient.

Bernd Hoppe, 12.11.2022


Sergej Prokofjew: Romeo und Julia“

Premiere am 05.11.2022 / besuchte Vorstellung am 08.11.2022

Choreografie: David Dawson

Musikalische Leitung: Benjamin Pope

Staatskapelle Dresden