In Halle an der Saale geboren, verlegte der Komponist Georg Friedrich Händel (1625-1759) nach einer musikalischen Profilierung in Norddeutschland seinen Lebensmittelpunkt im Jahre 1712 nach London. Über vierzig Opern, fast ausschließlich in englischer Sprache verfasst, sind in der Zeit bis 1737 entstanden. Die Jahre um 1730 gehören für Händel zu seinen schwierigsten Lebensphasen. Die ungesunde Lebensweise, intensive Arbeit, aber auch finanzielle Schwierigkeiten bescherten ihm 1837 einen Schlaganfall. Seine Versuche mit italienisch-sprachlichen Opern waren in London ohne Erfolg geblieben, so dass er im Oratorium seine Form des musikalischen Ausdrucks suchte.

Der selbstbewusste ihm nahestehende Großgrundbesitzer und Theologe Charles Jennes (1700-1773) lud Händel in seinen Junggesellenwohnsitz ein und schlug ihm vor, die Geschichte aus dem Alten Testament um den ersten israelitischen König Saul zum Thema eines großen Oratoriums zu gestalten. Jennes stand dem Britischen Königshaus kritisch gegenüber und war Anhänger der oppositionellen Fraktion um den Prinzen of Wales Frederick (1707-1751). Dem Komponisten Händel erklärte Jennes die Parallelitäten zwischen den Alt-Testamentarischen-Überlieferungen mit den Verhältnissen im Britannien der Mitte des 18. Jahrhundert und ordnete die komplexen Darstellungen in den Büchern „Samuel“ des Alten Testaments um den ersten israelitischen König Saul und dessen Nachfolger David zu einem Libretto für ein Oratorium, nicht ohne Aspekte seiner politischen Auseinandersetzungen mit den Texten zu verbinden.
Als im Jahre 2018 der Regisseur Claus Guth im „Theater an der Wien“ das Oratorium Saul in einer szenischen Inszenierung auf die Bühne bringen sollte, war im aufgegangen, dass sich das ethische Verhalten der Menschen seit der urchristlichen Zeit eigentlich grundsätzlich kaum verändert habe. So konnte er die Handlung des Librettos von Charles Jennes durchaus mit der gutbürgerlichen Jetztzeit zu verknüpfen, ohne an Aussagekraft zu verlieren. Die gegenwärtigen Verhältnisse im Nahen Osten verstärken diese Auffassung auf das Beklemmenste.

Die Semperoper Dresden hat die Arbeit des Teams um Claus Guth des Jahres 2018 vom Theater an der Wien übernommen und am 1. Juni 2025 zur Premiere der Ergebnisse der Übertragung der Inszenierung eingeladen.
Der Bühnen- und Kostümgestalter Christian Schmidt hatte auf der 20-Meter-Drehbühne aus schwarzen Blöcken abgetrennte Räume für das Agieren der Protagonisten geschaffen, so dass ein rascher Szenenwechsel zwischen dem Wohnraum der Familie, einem Waschraum mit einem Becken zum Erbrechen, einem gekachelten Meditationsraum und einer großen Spielfläche vorwiegend für die Massenszenen ermöglicht wurde. Kleinere Gänge zwischen diesen Räumen erlaubten intimere Szenen, so dass sich nur wenig Handlung vor der Drehbühne abspielen musste. Am Beginn konsequent auch durchgehalten, zerfaserte zunehmend diese Ordnung. Oft sinnvoll, aber warum das Neid-Lied unter Rembrandts Gemälde „Saul mit dem Harfe spielenden David“ gesungen wurde, war doch eine Notlösung, weil man das Bild nicht erklären wollte.
In diesem Umfeld erzählte Guth die Geschichte des Familienvaters, der sich einbildete, von Gott, aus dem Stamm Benjamin heraus, zum ersten König der Israeliten erwählt worden sei und seine Macht gegenüber dem charismatischen David behaupten muss. Erst als Saul Gottes Auftrag, das Volk der Amalekiter komplett ausrotten zu müssen, nicht in Gänze erfüllte, wird er gegen David ausgetauscht. Claus Guths handwerklichen Fähigkeiten auch in der Personenführung ist zu verdanken, dass die Parallelität des Familienlebens der Sauls mit den Visionen seines Oberhaupts fließend nachvollziehbar blieben. Es war stets unterscheidbar, ob ausgetauschte Argumente oder geäußerte Handlungsbefehle der Zeiten der Bücher Samuels zuzuordnen sind oder dem neuzeitlichem Kontext entnommen waren. Das Merkwürdige an der Geschichte schien Guth aber nicht zu sorgen: dass der Gott des Beginns der „Ein-Gott-Glaubens“-Epoche offensichtlich seine Macht nur nutzte, um seinem Volk, den Israeliten, in der Schlacht Vorteile zu verschaffen, Gewalt als einzige Handlungsoption ansah und ansonsten lediglich als rachgieriger Intrigant wirksam blieb?
Wir können nur vermuten, ob Händel die Folgen seines Schlaganfalls vollständig überwunden hatte, als er das Oratorium Saul als Gast im Hause des Charles Jennens komponierte. Die Einflüsse des Gastgebers auf die Handlung und musikalische Gestaltung des Werkes sind aber unbestritten. Händel hätte gern den Jubelgesang am Schluss des Oratorium gehabt, was aber nicht mit den politischen Ambitionen Jennens übereinstimmte. Der wollte mit „voran zu kühnem Streit“ abschließen, so dass die Jubelgesänge an den Anfang der Komposition, nämlich in die Feier des Sieges über die Philister, über Goliath, wanderten. Auch, dass die Nachricht über den Tod Sauls und Jonathans mit triumphierend-tenoraler Stimme im Schlussbereich des Werkes von einem Amalekiter überbracht wurde, war eines der vielen im Libretto verborgenen politischen Signale des Opponierenden, die wir gar nicht kennen. Wie aktuell die Amalekiter-Problematik des Alten Testaments noch immer ist, weist nach, dass der Stamm Amalek für Kreise der orthodoxen Juden bis zur Derzeit als einer der Erzfeinde der Israeliten gilt. Selbst in der „Klageschrift Südafrikas wegen des Gaza-Völkermords“ an den internationalen Gerichtshof im Jahre 2023 wird auf die Amaleks Bezug genommen. In einer Veröffentlichung neueren Datums wird sogar „Hamas ist das neue Amalek“ getitelt.

Georg Friedrich Händels Genie formte mit Jennes Texten eine Bandbreite ausdrucksstarker musikalischer Charakterisierungen, die in herausragender Weise sowohl die Unberechenbarkeit Sauls als auch das tugendhafte Wesen Davids erfasste. Wie kaum in einem Oratorium zeigte sich in seiner mitreißenden Dramatik auch bei den weiteren Gesangspartien die Nähe zur damaligen Oper. Die Partitur forderte das bis dahin farbigste Händel-Orchester. Zusätzlich zum üblichen Opernorchester kamen auch Posaunen, Harfe, Orgel, Glockenspiel sowie große Kesselpauken zum Einsatz. Von strahlenden Triumphchören über das prophetische Wispern der Hexe von Endor bis zum würdevollen Trauermarsch hatte Händel alles aufgeboten, um der alttestamentarischen Geschichte gerecht zu werden.
Der britische Mozartspezialist Leo Hussain (*1978) lieferte in seinem Dresdner Debüt mit den Musikern der Sächsischen Staatskapelle einen flexiblen Orchesterpart, der die Händel’schen Vorgaben mit reichen Farben auflud. Er dirigierte kraftvoll und trieb auch musikalisch die Handlung spannungsvoll voran ohne die Verbindung zur Szene zu verlieren.
Charakteristisch für die Barockmusik sind die mehrfachen Wiederholungen, so dass man Sänger benötigte, die nicht nur technisch versiert sind, sondern auch über Stimmen verfügen, die noch faszinieren, selbst wenn sie mehrfach das gleiche singen. Es war deshalb eine Freude, wie sich das Ensemble in der in englischer Sprache gesungenen Partitur mühelos bewegte, ohne langatmig zu wirken.

Das Clanoberhaupt der Saul-Familie wurde mit der Urgewalt seines kraftvollem Baritons und der entsprechenden Statur von Florian Boesch als Portrait einer zerrissenen Persönlichkeit auf die Bühne gebracht. Boeschs darstellerische Stärke, die ausgewogen mit seiner tragenden sonoren Stimme harmonierte, ermöglichten ihm, im von Christian Schmidt verordneten schwarzen Kittel seine Sippschaft bis zu einem gewissen Grade zu manipulieren. Als aber David zunehmend Einfluss erreichte, war sein Untergang eingeleitet. Seine Vision, dass er, der von Gott ausgewählte und vom Propheten Samuel gesalbte, bei der vollständigen Vernichtung der Erzfeinde, der Amalek versagt hatte, stürzte ihn zunehmend in den Wahnsinn und letztlich in den Suizid. Die vielleicht stärksten Momente der Inszenierung lieferte Boesch, als der immer mehr in den Wahnsinn abgleitende Despot, sich als der von Gott und der Welt verlassene König Saul glaubte. In seiner Verwirrung und Verzweiflung flehte er mit Hilfe der Hexe von Endor den Propheten Samuel um Rat und Hilfe an. Boesch sang zwischen Bariton und Bass einen gewaltigen ein-Mann-Dialog zwischen dem vermeintlichen König und Samuel, dem möglichen Retter. Boesch rückte damit Saul an Shakespeares „König Lear“ und offerierte sowohl stimmlich, als auch darstellerisch den Verfall dessen Persönlichkeit.
Der Hohe Priester Abner des türkisch-deutschen Tenors Tansel Akzeybek hatte eigentlich die schönsten Aufgaben im Oratorium, als er am Beginn David in die Familie Sauls einführen konnte und im Schluss-Rezitativ David zum neuen König krönen durfte. Im Zentrum der Handlungsentwicklung, als David zur Gefahr der Macht Sauls geworden war, hatte sich der Priester Abner zur Personifizierung des geistigen Verfalls Sauls, des von der Krankheit zerfressen Despoten, entwickelt. Er verführte Saul zu merkwürdigen von Selbstzweifel, Hass und Selbstmitleid geprägten Entscheidungen, leitete so seinen Untergang ein.
Der unter dem Jubel des Volkes einziehende David von Jake Arditti verzichtete auf Helm und Rüstung, kam in Unterhemd mit schlampiger Hose auf die Szene und brachte nur Goliaths abgeschlagenen Kopf auf die Festtafel. Der britische Countertenor Jake Arditti setzte seine schlanke, schön gebildete Stimme meisterhaft für die Darstellung des charismatischen David ein. Die stimmliche Bewältigung der schwierigen Partie war grandios. Beherzt gesungen, aber auch mit schönen Verzierungen, angenehmen Timbre sowie hellem Wohlklang versehen, wo angebracht, waren seine Darbietungen. Seine Charakterisierung des naiven Helden gegenüber der Bosheit Sauls war bewegend, so dass man ihm seine Tapferkeit kaum glauben wollte. Dass der junge Sänger auch einen erfreulichen Anblick bot, sich sein Outfit mit seiner Beliebtheit verbesserte, verfehlte seine Wirkung auf die Nachkommen Sauls nicht. Emotionen, Begierden und Ängste brachen auf und alle Kinder Sauls verfielen seinem sexuellen Charisma.
Auch wenn David nach Sauls Suizid als Sieger, als Lichtgestalt erschien, kündigt sich an, dass auch seine Herrschaft ihr Ablaufdatum haben werde.
Einprägsam komplettierte James Ley die Ensembles als Sauls Sohn Jonathan, vor allem, weil sich seine kraftvoll eingesetzte etwas schwere Tenorstimme deutlich vom Countertenor Jake Ardittis absetzte.

Die Töchter Sauls waren von Jasmin Delfs als Merab und Mary Bevan als Michal differenziert etabliert. Vom ersten Auftritt an hatte Michal mit ihrer Bühnenescheinung und dem wandelbaren kristallklar-hellem Sopran die Sympathie des Publikums. Das unbeschreiblich ergreifende Liebesduett der Mary Bevan mit Jake Arditti, als sie dem durch Sauls Mordpläne bedrohtem David zur Flucht verhalf, berührte besonders.
Ihre Schwester Merab wollte den Helden David wegen seiner begrenzten Tischsitten auf keinen Fall zum Ehemann nehmen, obwohl es der Vater angeordnet hatte. Jasmin Delfs intrigierte mit ihrem wunderbar, feurigem Mezzo-Sopran sowie einer bestimmenden Gestik, dass man ihre Ablehnung auf der Bühne richtig spüren konnte. Angesichts der hinterlistigen Absichten ihres Vaters gegen den Schwager erfasste Merab aber Mitleid mit David und die Sängerin wetterte voller Inbrunst mit schillernd-betörender Stimme gegen Saul.
Die Hexe von Endor des amerikanischen Countertenors Jake Ingbar war fast ständig als stumme dienstbare Frau auf der Szene präsent, lieferte auf Befehl des wahnsinnigen Sauls mit toller Stimme seinen Ruf nach dem vermeintlichen Retter Samuel aus der Unterwelt.
Der Tenor aus der Gruppe der Dresdner Kapellknaben Alexander Schafft erfüllte seine begrenzte Aufgabe als Angehöriger des feindlichen Volkes der Amalekiter bei der Todesnachricht engagiert und mit erstaunlich guter Stimme.
Dem Sächsischen Staatsopernchor gehörten bei einer aus einem Oratorium destillierten Oper der erste und der letzte Ton. Die Choristen fungierten aber vor allem als zentraler Bestandteil der dramatischen Handlung, nahmen am Geschehen Teil, begründeten es besinnlich, weinten, jubelten hemmungslos mit Engagement, übernahmen aber auch kommentierende Funktionen, wie in der griechischen Tragödie. Der von Jan Hoffmann einstudierte Sächsische Staatsopernchor agierte vom Beginn bis zum letzten Takt klangstark und mit viel Spielfreude. Die Chorsänger änderten ihr Erscheinungsbild simultan mit der Entwicklung des gesellschaftlichen Geschehens von der schwarzen Gesellschaftskleidung über Helleres, sogar Farbiges bis hin zu einem einheitlich weißen Outfit.
Das letzte Bild mit den einzeln verlöschenden Einsätzen, der ergreifenden Klage und dem Aufschwung zum Schlusschor dürfte zu von Hoffmanns geschaffenen eindrucksvollsten Chorszenen gehören.
Thomas Thielemann, 2. Juni 2025
Saul
Georg Friedrich Händel
Semperoper Dresden
Premiere am 1. Juni 2025
Inszenierung: Claus Guth
Musikalische Leitung: Leo Hussain
Sächsische Staatskapelle Dresden