Hamburg: „Norma“, Vincenzo Bellini

Krieg ist an allen Fronten. Die Regisseurin dieser Produktion von Bellinis Norma an der Staatsoper Hamburg, Yona Kim, sieht das genau richtig: Unter den in überbordender Schönheit sich in gefühlter Unendlichkeit dahinziehenden Kantilenen schwelen grausamste Konflikte. Da herrscht nämlich ein auch psychisch brutaler Krieg zwischen Besatzern und Besetzten, zwischen Vater und Tochter, zwischen Mann und Frau, zwischen Individuum und Gemeinschaft. Und wie in den meisten Konflikten, auch in denen der Gegenwart, gibt es eben nicht einfach nur Schwarz (die bösen Usurpatoren) und Weiss (die bedauernswerten Überfallenen). Diesen Subtext herauszuarbeiten und in überzeugenden Bildern auf der Bühne darzustellen ist die Aufgabe des Theaters, wenn es nicht in wallenden Gewändern und überladenen Bühnenbildern ersticken und alles Konfliktbeladene unter „Schönheit“ zuschütten will.

Hans Jörg Michel

Es ist gut und aufregend, dass das Team um Yona Kim nicht Oper zum Zurücklehnen und passiven Genießen zeigt, sondern hinterfragt, auf- und erregt. Nur so wird Oper überlebensfähig bleiben. Natürlich erschreckt man damit ab und an das Publikum, aber man holt es so auch aus der Lethargie, evoziert Diskussionen – und das ist gut so. Jedenfalls gelingen Yona Kim im Bühnenbild von Christian Schmidt aufwühlende Bilder, die haften bleiben. Vieles spielt sich in einem Wellblechcontainer ab, in dessen Keller Norma ihre beiden Kinder versteckt, ja gefangen hält. Wenn der Container hochfährt und man die Knaben in diesem Verließ sieht, ist man echt schockiert. Kindesmissbrauch, erzwungen aus dem Konflikt, der unter die Haut geht.

Sehr eindringlich wird der Charakter Normas herausgearbeitet, z.B. wie sie da mit dem Messer, mit dem sie eben noch die Geburtstagstorte anschneiden wollte, ihre eigenen Kinder umbringen will (als Rache für Polliones Treuebruch) und dann doch zum Glück ihre Mutterliebe überhandnimmt. Gerade diese Szenen im Container und im Keller sind mit fantastischer Präzision gearbeitet. Effektvoll gerät auch die Schlussszene mit dem Chor als (grausame) Richter in roten Roben und dem Brandopfer im Container – im Krieg werden nicht nur die Angreifer, sondern wie hier auch die Angegriffenen zu archaischen Wilden. Falk Bauers Kostüme sind gegenwärtig, bevorzugen die Dramaturgie von schwarz-weiß Kontrasten, mit Brauntönen für die Römer. Gewaltigen Eindruck macht die differenzierte Lichtgestaltung durch Reinhard Traub, auch wenn das Grellweiß der Neonröhren im Container das Auge manchmal arg strapaziert. Der wunderbar klangprächtig singende Chor der Staatsoper Hamburg wirkt mit gewollter Bedrohlichkeit in seiner Statik. Philip Bußmann hat dezent atmosphärische Videoeffekte zur Produktion beigesteuert.

Ja, die Menschen in dieser Oper sind nicht gerade ein Ausbund von Lichtgestalten, aber die Melodien, welche Bellini in ihre Kehlen legte, sind es sehr wohl, das ist Belcanto vom Allerfeinsten, und der wird von den sechs Sangeskünstlern in dieser Wiederaufnahme (Premiere in vollkommen anderer Besetzung war im März 2020) mit herausragender Schönheit und der gebotenen, wuchtigen Dramatik interpretiert. Die gewaltige Partie der Norma hat sich die junge usbekische Sopranistin Barno Ismatullaeva innerhalb bloß eines Monats Vorbereitungszeit erarbeitet (vorgesehen war eigentlich Saioa Hernández). Mein Gott, sind das Töne! Barno Ismatullaeva verfügt über eine überaus gesunde stimmliche, farbenreiche Substanz, eine Ausgeglichenheit in allen Lagen mit wunderbarer, klangvoller Tiefe und mutiger, furchtlos und sicher attackierter Höhe. So muss Norma klingen.

Höhepunkte einer Norma-Aufführung stellen für mich jeweils die so wunderbaren Duette Norma-Adalgisa dar. Auch da wurde man gestern Abend in der Staatsoper Hamburg nicht enttäuscht. Denn mit Karine Deshayes stand eine der zurzeit besten Adalgisas auf der Bühne. Die mehrfach ausgezeichnete und rollenerfahrene französische Mezzosopranistin ließ keine Wünsche offen, gestaltete die Partie der jungen Priesterin und Rivalin Normas mit satter, dramatisch aufblühender Stimme, stilsicher phrasierend und in Farbe, Musikalität und Intonation perfekt mit dem Sopran von Barno Ismatullaeva harmonierendem Singen. Zum Dahinschmelzen!

Hans Jörg Michel

Kraftvoll und höhensicher sang Najmiddin Mavlyanov den römischen Feldherrn Pollione, vielleicht ab und an etwas eindimensional im Forte Bereich verharrend, dies jedoch sehr effektvoll. Tigran Martirossian gestaltete mit flexiblem Bass einen zwielichtigen Oroveso, Normas Vater und despotisch-demagogischer Anführer der unterdrückten Druiden, mit ihrem unsäglichen Jungfrauenkult. Ganz besondere Erwähnung verdient Renate Spingler in der Rolle der Clotilde: Mit einmaliger Bühnenpräsenz und ausdrucksstarkem Gesang zeigte sie exemplarisch, welches Gewicht man Comprimarii-Rollen zu verleihen vermag. Großartig! Aufhorchen ließ auch Seungwoo Simon Yang als Flavio, Begleiter Polliones. Seine strahlende Tenorstimme ist ein großes Versprechen für die Zukunft.

Giampaolo Bisanti garantierte eine von der Ouvertüre bis zum Finale durchgezogene Spannung dank vorwärtsdrängender Tempi und aufrüttelnder Dramatik. Passend zur szenischen Umsetzung auf der Bühne gab’s auch auf musikalischer Seite kein wohliges Zurücklehnen im Sessel, schon eher saß man aufgeregt und fokussiert auf der Sesselkante.

Hans Jörg Michel

Im Saal beobachtete man viele, sehr viele leere Plätze. Sicher ist Dienstag nicht der allerbeste Tag, um in die Oper zu gehen. Aber Norma ist ja eigentlich ein sehr populäres Werk, vor allem seit Maria Callas die Titelrolle quasi zu ihrer Signature – Partie gemacht hatte. Woran liegt also das mangelnde Interesse? Entspricht die Inszenierung nicht der Erwartungshaltung des vorwiegend älteren Publikums? Ist die Konkurrenz der Elbphilharmonie auf dem Klassikmarkt in Hamburg zu stark? Dort sind die Konzerte regelmäßig ausverkauft (wohl zum Teil aufgrund der bei Touristen angesagten Location). Leidet die Oper immer noch unter den Folgen von Corona? Geben die Leute ihr Geld nur noch für Events mit zu Recht oder zu Unrecht hochgepushten Stars aus? Schade, denn diese Norma hätte eindeutig mehr Publikum verdient!

Kaspar Sannemann 27. April 2023


Norma

Vincenzo Bellini

Hamburg, Staatsoper

25. April 2023

Regie Yona Kim

Diriigat Giampaolo Bisanti

Philharminisches Staatsorchester Hamburg