Es ist erstaunlich: Jürgen Roses Ausstattung (Bühnenbild und Kostüme) ist in den Bildern eins und drei von einer unfassbar prachtvollen Opulenz – und erschlägt die mit faszinierender Ästhetik aufwartende, sorgfältig und kunstvoll gearbeitete Choreografie von John Neumeier trotzdem nicht. Im Gegenteil, die Ausstattung und der tänzerisch-erzählende Ablauf gehen Hand in Hand, schaffen diese ganz besondere Atmosphäre einer der populärsten NUSSKNACKER-Versionen überhaupt.

Wie schon Tschaikowsky selbst, so traute auch Neumeier (und mit ihm eigentlich alle Choreografen der letzten Jahrzehnte) dem etwas sperrigen und unlogischen dramaturgischen Konzept der Urfassung nicht. Neumeier machte aus dem Weihnachtsfest die Geburtstagsparty der zwölfjährigen Marie, die einen Nussknacker als Geschenk des Kadetten Günther bekommt und Spitzentanzschuhe vom Ballettmeister Drosselmeier. Drosselmeier wurde von Maries Schwester Louise, die als Ballerina an Drosselmeiers Ballett am Hoftheater arbeitet, eingeladen. Nach der Party probiert Marie die Schuhe an und versinkt in einen Traum. Auf dieser Traumreise wird sie zuerst von Drosselmeier in einen Ballett-Probesaal geführt, dann gerät sie in eine Vorstellung von den berühmtesten Balletten Drosselmeiers (John Neumeier sieht Drosselmeier als Marius Petipa, den Vater des klassischen russischen Balletts).
Am Ende wacht sie aus ihrem Traum auf, hat den Sprung von der Kindheit zur Jugend bewältigt. Man sieht in dieser Choreografie nichts vom Kampf der Zinnsoldaten gegen die Mäuse, keine Zuckerfee. Dafür wird richtig viel (und hervorragend) getanzt. Es gibt einiges zu schmunzeln in der Zeichnung der Charaktere (z.B. die unterschiedlichen Tanten, die eine betrunken und die andere kunstbeflissen, und die Großmutter an der Geburtstagsfeier), man freut sich an den Späßen der Kadetten rund um Fritz und natürlich am Auftritt des affektierten Ballettmeisters Drosselmeier. Und da ist natürlich noch Louise, die Schwester Maries, die Ballerina. Die langjährige Erste Solistin des Hamburg Ballett, Anna Laudere, zeigt alle Facetten ihrer Kunst: Makellose Reinheit und Klarheit und bestechende Sicherheit im Tanz auf der Spitze, gepaart mit der Intensität des Ausdrucks. Im grandiosen Pas de deux mit dem von Matias Oberlin fulminant getanzten Günther kommt man aus dem Staunen über die Anmut und die Grandezza der beiden kaum heraus.

Alexandre Riabko ist ein überaus eleganter, kraftvoll und raumgreifend tanzender (auch autoritärer, bis hin zur Übergriffigkeit) Drosselmeier; er weist durchaus äußerliche Parallelen zu Petipa auf. Ana Torrequebrada macht das “coming of age” der kleinen, sich linkisch bewegenden Marie, zur staunenden, sich zusehends selbstbewusst und frei auf der Spitze tanzenden Jugendlichen mit wunderbarer Plastizität erlebbar. Die Liste der Mitwirkenden auf der Bühne ist lang und jede noch so kleine Rolle wird von den Tänzern des Hamburg Ballett ganz wunderbar ausgefüllt: Besonders erwähnt zu werden verdienen Francesco Cortes als quirliger Fritz, der zusammen mit Evan L’Hirondelle und João Santana die bejubelte Einlage der drei Leutnants mit stupender Akrobatik tanzt, Hayley Paige und Florian Pohl (das ägyptische Paar) oder Lormaigne Bockmühl (der chinesische Vogel).
Ganz wunderbar choreografiert und ausgeführt waren die Gruppentänze (die Schöne von Granada, Esmeralda und die Narren, Pas de quatre und Variations des hommes). Mit bestechender Originalität, Ästhetik und Reinheit bestachen der Blumenwalzer (Lebende Gärten), die Variationen von Matias Oberlin, Ana Torrequbrada und Anna Laudere.

Es sind solche unvergesslichen Momente, welche John Neumeiers DER NUSSKNACKER Kultstatus verleihen. Kein Wunder steht dieses Ballett, das Neumeier 1971 für Frankfurt erarbeitet und dann über das Royal Winnipeg Ballett und das Ballett der Bayerischen Staatsoper weiterentwickelt und zwei Jahre später für Hamburg in der Ausstattung von Jürgen Rose neu herausgebracht hatte, seit über 50 Jahren ganz weit oben in der Gunst des Publikums.
Simon Hewett leitete die wunderbar rund und warm intonierenden Symphoniker Hamburg.
Kaspar Sannemann, 29. Dezember 2025
Der Nussknacker
Peter Tschaikowsky
Staatsoper Hamburg
Besuchte Aufführung: 26. Dezember 2025
Premiere: 27. Oktober 1974
Choreografie: John Neumeier
Musikalische Leitung: Simon Hewett
Symphoniker Hamburg