„Je gemeiner die Gesellschaft, desto gemeiner der Einzelne“, so Benjamin Britten über Umfeld und Individuum in seiner Sozialstudien-Oper „Peter Grimes“. Das kraftvolle, musikalisch und inhaltlich aufwühlende Werk geht auf eine Geschichte des Aldeburgher Dichters George Crabbe zurück, der sich wiederum auf einen realen Fall aus dem 18. Jahrhundert berief. Das macht die Sache nicht besser, denn auf der Geschichte des Fischers, der als Verursacher des Todes seines Lehrjungen wahnsinnig wird und von der bigotten Kleinstadtgesellschaft zum Suizid „verurteilt“ wird, lastet ein beklemmendes Gemenge aus psychischer Not, sozialer Kontrolle und gescheiterten Hoffnungen. „Him who despises us we’ll destroy!”, also „Den, der uns verachtet, werden wir vernichten“ – dies ist das Credo einer Gesellschaft, die sich um Stabilisierung des Sozialgefüges bemüht, aber letztlich Menschen, die nicht der Norm entsprechen, an den Rand und in die Einsamkeit drängt.
Nun ist die Inszenierung nach Sabine Hartmannshenn an der Hamburger Staatsoper schon über ein Vierteljahrhundert alt, aber Thema und Umsetzung in der Produktion sind so zeitlos wie Brittens Musik. Libretto und Partitur prägt eine ungemein dichte Kongruenz und ermöglicht so die psychologische Zeichnung der einzelnen Charaktere, die Darstellung sozialer Enge und ein Lokalkolorit, das die Seeluft von Brittens Heimatstadt Aldeburgh an der englischen Ostküste atmet.
Die überarbeitete Inszenierung bekennt sich im Bühnenbild von Wolfgang Gussmann, der auch die Kostüme entwarf, zu einem klaren Reduktionismus mit hoch- und querformatigen Ausschnitten aus der Gesamtbühne, mit Treppen und, nur in der 1. Szene des 1. Akts abweichend, diagonalen Strukturen, die an Schiffsrümpfe gemahnen mögen. Vor allem herrscht in allen Bildern eine Düsternis oder auch diesige Atmosphäre, die durch Erbstüll- bzw. Gazevorhänge und die sensibel eingesetzte Beleuchtung von Hans Tolstoede erzeugt wird. Das beeindruckendste Bild wird durch das sich immer weiter verkleinernde Rechteck in der Finalszene erzeugt, in das wie in die Ferne Peter Grimes mit dem toten Jungen im Arm entschwindet. Schade nur, daß die Vorhänge zu knapp bemessen sind und von links und rechts der Bühnenhintergrund zu sehen ist; zudem verirrt sich ein Chormitglied auf den ungewollt erhellten Bühnenteil.
Die Kostüme erscheinen in einer Art dunkel gehaltener Uniformierung als Sinnbild einer Gleichförmigkeit, die individuelle Lebensweisen ablehnt. Gregory Kunde als Peter Grimes hingegen trägt einen crèmefarbigen Wollpullover, wie er für die Land- und Küstenbevölkerung Großbritanniens typisch ist, und eine farblich passende Hose. Zur symbolischen Schwarz-Weiß-Malerei taugt das nicht, denn er ist ja auch ein übler, grober Kerl, der für den Tod von zwei Jungen verantwortlich ist. Zum Ende der 1. Szene des 2. Akts erscheinen in nämlicher heller Kleidung Ellen Orford, Auntie und die beiden Nichten – allesamt keine unschuldigen Lilien, wenngleich Ellen noch die menschlichste Figur, ja eine ausgesprochene Sympathieträgerin in der Oper ist. Mit bloßer Farbsymbolik kommt man hier also nicht weiter. Da in diesem Werk ohnehin alles zweideutig ist, mag man hier auch mit Brechungen oder mehreren Bedeutungsebenen spielen.
Kundes Interpretation der Titelfigur gerät ausgesprochen glaubhaft, psychologisch vielschichtig und angreifbar. Es ist meist müßig, das Alter eines Sängers zu nennen, aber hier darf einmal angeführt werden, daß der Tenor sich in seinem 70. Lebensjahr befindet und die Partie mit männlicher Stärke, aber eben auch seelischer Tiefe singt. Er tut das nie laut, dringt aber immer durch Orchester und Chor.
Jennifer Holloway kommt eigentlich aus dem Mezzo-Fach, hat sich aber zum Sopran hin entwickelt. Ihre Ellen singt sie mit weiblicher Wärme, weiß aber auch den anklagenden Passagen deutlichen Ausdruck zu geben, ohne schneidend zu werden. Ebenso wie bei Kunde bleiben bei ihr die Artikulation exakt und die Frequenzgestaltung gemessen, womit beiden eine realitätsnahe Darstellung gelingt.
Das gilt auch für Iain Patersons Balstrode, der den Außenseiter verstehen will, bevor er ihn verurteilt. Allein von der baßbaritonalen Stimmlage her ist er ein markiger Kapitän, der erstmal überlegt, was er tut, bevor er sich irgendwelchen Massenhysterien anschließt.
Ganz bewußt am Rand des Klischeehaften schippern die halbseriöse Wirtin Auntie, verkörpert von Clare Presland, und Mrs. Sedley, eine Art Miss Marple-Verschnitt, entlang. Letztere singt und spielt mit karikaturhafter Überzeichnung Rosie Aldridge. Diese Rollen werden von den Sängerinnen ebenso überzeugend dargestellt wie die beiden Nichten, die Na´ama Shulman und Claire Gascoin geben.
Die männlichen Nebenrollen füllen Florian Panzieri (Bob Boles), Joshua Bloom (Swallow), Jürgen Sacher (Reverend Adams), Nicholas Mogg (Ned Keene) und Liam James Karai (Hobson) mit Leben. Der Junge (Bo Dietrich) und Dr. Crabbe (Wolfgang Lange) sind zwar stumme Rollen, geben diesen aber durch Aktion und Gestik, beim Jungen vor allem durch passives Dulden, authentische Gestalt.
Ganz großartig ist der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor der Staatsoper Hamburg, vor allem die Kirchenszene gerät beeindruckend sakral und dadurch eben auch bigott.
Dem zumal im ersten Akt eher statischen Bühnenbild steht eine lebendige Personenregie gegenüber, die Individuen und Masse gleichsam erlebbar macht. Holzkreuze in den Händen der Kirchgänger lassen den Weg zum Gotteshaus wie einen Kreuzzug erscheinen – die Menge legitimiert ihre Haltung und Taten durch eine gemeinsame Moral, die so gedehnt wird, daß am Ende alles paßt.
Kent Nagano wird immer wieder mal vorgeworfen, Partituren herunterzuspielen, aber in diesem „Peter Grimes“ spielt der Dirigent souverän mit Dynamiken und Stimmungen. Dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg gelingen gerade die zauberhaften Zwischenspiele mit einer Farbigkeit, die Turner-Seestücke im inneren Auge aufsteigen läßt, mit all den Wogen, dem flirrenden Sonnenlicht und den Seevögeln. Aber dieses Meer ist weit entfernt von Debussy-hafter Wärme; die Arpeggien, sparsamen Dissonanzen und klaren Melodielinien malen ein Meer, das auch wild und rauh ist. Diese See prägt die Menschen an ihrer Küste und so sind solche Klänge auch immer eine Seelenmusik.
Alex Ross hat festgestellt, daß die Britten´sche Leitmotivik über die Wagners hinausgeht, weil er den Motiven zwei verschiedene Bedeutungen zuweist, zum Beispiel Grimes´ Schuldgefühlen einerseits und der Verurteilung durch die Mitbürger andererseits. Auch hier zeigt sich das Zweideutige in der Oper.
Zu all diesen Facetten, Ebenen und Schichten gewährt die überarbeitete Produktion beeindruckend Zutritt und läßt genügend Freiraum für eigene Interpretationen.
Ein vor allem musikalisch absolut überzeugender Opernabend, der vom Publikum mit begeistertem, langanhaltendem Beifall gewürdigt wird.
Andreas Ströbl, 13. Februar 2024
Peter Grimes
Benjamin Britten
Staatsoper Hamburg
11. Februar 2024
Inszenierung nach Sabine Hartmannshenn
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Nächste Vorstellungen: 14, 18. und 21. Februar-