Hamburg: „Saint François d’Assise“, Olivier Messiaen

Der erste Biograph des Hl. Franz von Assisi, Thomas von Celano, berichtet von Versuchungen „heftigen Verlangens“ des Ordensgründers, die er jedoch sublimieren konnte. Auch die Heiligen sind eben nicht ohne Sinnenlust.

Daß dies auch für seinen späten Jünger Messiaen gilt, den man nach dem Hören seiner gut vierstündigen „Scènes Franciscaines“ („Franziskus-Szenen“) eher mit „St. Olivier“ titulieren möchte, berichtet niemand anderes als Kent Nagano, der in den letzten Lebensjahren eng mit dem Komponisten zusammenarbeitete und 1988 erstmalig das gesamte Werk aufführte.

© Bernd Uhlig

Nagano weiß zu erzählen, daß der Meister einmal mit seiner zweiten Frau Yvonne Loriod – und jetzt kommt´s – eine ganze Birnentarte aufgegessen hat! Ja, Sündhafteres gibt es nicht zu erzählen von dem, der, ebenso wie der Hl. Franz, mit den Vögeln sprach oder besser: zu dem die Vögel sprachen. Rund 700 verschiedene Vogelrufe konnte Messiaen auseinanderhalten; die geflügelten Brüder stellten für ihn eine Verbindung zwischen Erde und Himmel dar. Ihren Gesang integrierte er in viele seiner Werke; das „Vogelkonzert“ in der Franziskus-Oper dauert etwa eine halbe Stunde.

So ein Riesenwerk, neben dem sich Gustav Mahlers Universalentwurf der 8. Symphonie schon fast kompakt ausnimmt, bedarf einer entsprechenden Umsetzung. Die gelang großdimensioniert in einer Kooperation von Staatsoper, dem Philharmonischen Orchester und der Elbphilharmonie Hamburg in einem Projekt von Kent Nagano und Georges Delnon im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg.

Auch für glaubensfeste Zuhörerinnen und Zuhörer ist das Mammutwerk anspruchsvoll, von der Länge und dem theologischen Inhalt her, das man – der bescheidene Franziskus hätte dies Messiaen sicher zugestanden – geringfügig, also um ein bis zwei Stunden, hätte einkürzen können. Aber die Hamburger schaffen es durch eine bewährte Bespielung des gesamten Großen Saales der „Elphi“ mit wundervollen Lichteffekten, die Ausnutzung des Raumes mit Rängen und Treppen, mit einer eigens eingebauten brückenartigen Empore, einem Engels-Aufzug und einer zentralen Video-Projektion auf riesiger Rotunde sowohl Bewegung in die eher statische Handlung zu bringen als auch eine Verbindung zur Jetztzeit herzustellen. Auf die Rotunde wird auch das Libretto projiziert.

So werden den einzelnen Bildern meist schwarzweiß-gehaltene Filme zugesellt, die Deutungen und Bezüge konstruieren. „Das Kreuz“ thematisiert die katholischen Vorläufer der Luther´schen „Theologia Crucis“ und die Liebe zu Christus, um derentwillen der Gläubige bereitwillig das Kreuz auf sich nimmt. Diese Liebe spiegelt sich in einem Film über Obdachlose und deren mildtätige Versorgung. Die „Lobpreisungen“ sind mit der Zerstörung der Schöpfung durch den Menschen konfrontiert, während in der Begegnung des Franziskus mit einem Aussätzigen die Rettung von Flüchtlingen, den Randgliedern und Gemiedenen des satten Europa, durch die Organisation „Seawatch“ gegenübergestellt wird. Die liebevolle Pflege alter Menschen schlägt eine Brücke zurück zum sozialen Auftrag des Heiligen, der durch die Stigmata, also die Wundmale Jesu (aus)gezeichnet wurde. Weitere Filmsequenzen entführen nach Assisi selbst, würdigen die Liebe zur Natur und ihren Geschöpfen, zugleich machen sie deren Gefährdung greifbar. Dann sind die Bilder farbig und liebkosen Bäume, Vögel, Meer und Wolken.

© Bernd Uhlig

Nicht immer besteht eine Kongruenz zwischen Musik, Libretto und Filmszenen, aber es wird dennoch klar, daß es hier nicht um abgehobene Spiritualität geht, sondern daß jemand wie Franz von Assisi zentral die tiefempfundene Liebe Gottes umgesetzt hat, um den Menschen und er ganzen Schöpfung zu dienen. Zudem wird Messiaen den Assoziationen zugestimmt haben, denn seine erste Frau endete mit einer unheilbaren Hirnkrankheit im Pflegeheim.

In der ersten Abteilung spielt ein dunkelhäutiges Mädchen im blauen Regenmantel mit einem aufblasbaren Globus, im zweiten Teil wird dieser Erdball größer dimensioniert hinter dem Dirigentenpult liegen, um in den letzten Szenen oberhalb der Empore zu hängen, als Symbol eines geschundenen Planeten, den wir, so hieß es in der Umweltbewegung, nur von unseren Kindern geborgt haben. Ein kleiner Junge im nämlichen Regenmantel wird, symbolisch etwas unklar, später durch die Ränge laufen; vielleicht versinnbildlicht dies das zu schützende Individuum.

Dem St. François verleiht der Bariton Jacques Imbrailo nicht nur eine warme, anteilnehmende und auch in den leisen Stellen starke und präsente Stimme, er stellt ihn auch in seiner ganzen Zugewandtheit und bescheidenen Dienstbarkeit plastisch dar.

© Bernd Uhlig

Koloratursopranistin Anna Prohaska gibt den Engel und in der Tat ist ihr Vortrag engelsgleich. Wundervoll leicht und dabei voller Glanz singt sie die vielschichtige Partie.

Optisch und von der Stimmfülle her alle Ehre macht dem Namen Léon der Bariton Kartal Karagedik, denn kraftvoll und dabei in sich ruhend wie ein Löwe verkörpert er den Ordensbruder und Gefährten. Anthony Gregory als Aussätziger singt mit angegriffener Stimme, während der ruppige Bruder Élie durch Andrew Dickinson einen bewußt unsympathischen Unterton erhält. Dovlet Nurgeldiyev als Bruder Massée, David Minseok Kang in der Rolle des Bruder Bernard, Florian Eggers als Bruder Sylvester und Niklas Mallmann, der den Bruder Rufin singt – sie alle bilden einen wunderbar abgestimmten, vom Gestus her stets der Gemeinschaft dienenden Kreis derjenigen, die voller Dankbarkeit ihre Tage mit dem Ordensgründer verbringen durften.

Die Diktion ist bei allen Solisten überzeugend und tatsächlich ist das Libretto voller wunderschöner Stellen, die gerade der Musik einen göttlichen Rang zugestehen, die von Vögeln und Menschen durch Gott empfangen und wiedergegeben wird. „Heut noch hörst du die Musik des Unsichtbaren“ ist eine Verheißung auf das, was eher geahnt als sinnlich vernommen werden kann.

Audi Jugendchorakademie und Vokalensemble LauschWerk bilden einen Chorapparat von einer beeindruckenden Stärke und Akkuratesse, die beide auch nötig sind, um dem Orchester einen angemessenen Gegenpart zu bieten. Die Instrumentierung mit großem Streicher- und Bläserapparat, einer Unmenge an Schlagwerkinstrumenten und den drei „Ondes Martenot“, die im Klang immer so ein bißchen an Sciencefiction-Filme der 70er Jahre erinnern, lacht den überbordenden Einfällen von Gustav Mahler und Richard Strauss schon fast Hohn, aber so kreiert Messiaen eben ein Klanguniversum mit ständigen Überraschungen, harschen Brüchen, peitschenknallenden Härten und lyrischer Schönheit, die tatsächlich in das Blau des Himmels strahlt. Für das Philharmonische Staatsorchester Hamburg scheinen die erheblichen Anforderungen der Partitur gerade recht; sowohl in der Behandlung der solistischen Partien wie auch der Messiaen-typischen Unisono-Stellen bleibt der große Apparat die ganze Zeit hindurch konzentriert und hochengagiert. Man mag an Kent Nagano immer wieder Kritikpunkte finden, aber dieser für ihn so persönliche Abend dürfte eine seiner unbestrittenen Meisterleistungen gewesen sein. Niemand der lebenden Dirigentengeneration wird die Partitur besser kennen als er und es sind vor allem seine eleganten Handbewegungen, die den Einsätzen etwas Fließendes und damit der Wiedergabe Kontinuität und Schmiegsamkeit bei allen Dissonanzen und Härten geben.

© Bernd Uhlig

Die Bilder des wandernden und musizierenden Engels sind voller Macht und immer wieder transluzider Zartheit. Trotz auch noch heute ungewohnter Kombinationen und verschreckender Einsätze ist die Musik aufgrund der durchgehenden Tonalität eingängig; es hört sich eben manchmal nur an wie Dodekaphonie, aber Messiaen spielt auch mit Bekanntem wie dem Riesenmotiv aus Wagners „Rheingold“ oder Anklängen an Mahlers Naturbildern.

Das Finale jubelt sich wie ein C-Dur-Meteor ins Firmament und so untermalt die Sterbeszene des Heiligen keine Trauermusik, sondern dies ist ein lichtvolles, klingendes Fest des Lebens.

Das wußten nicht alle im Publikum zu schätzen, denn immer wieder störten tumbe Klatscher sogar in die Musik hinein (bei erhobenen Armen Naganos!) und nach jeder der beiden Pausen hatten sich die Reihen weiter gelichtet. Für die aber, die Ohren hatten zu hören, tat sich eine Spiritualität auf, die den Verbleibenden das Bewußtsein gab, dem großen Ordensgründer und dem musikalischen Apologeten seiner Botschaft, eben Franziskus und Messiaen, wirklich begegnet zu sein.

Jubelnder und langanhaltender Beifall zeigte, daß die Botschaft angekommen war. Mancher Protestant dürfte über eine Konversion zum Katholizismus nachgedacht haben.

Andreas Ströbl, 7. Juni 2024


Saint François d´Assise
Oper in drei Akten und acht Bildern von Olivier Messiaen

Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, Hamburg
Koproduktion von Staatsoper Hamburg, Philharmonischem Orchester Hamburg und Elbphilharmonie Hamburg

6. Juni 2024

Szenische Einrichtung: Georges Delnon
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg