
Es war schon ein ungemein eindringliches und spannendes, dabei aber auch recht ungewöhnliches Stück Musiktheater, das an diesem denkwürdigen Abend an der Stuttgarter Staatsoper aus der Taufe gehoben wurde. Die Premiere von Der rote Wal, einem Auftragswerk der Stuttgarter Staatsoper, geriet zu einem fulminanten Erfolg, wie er nicht alle Tage vorkommt. Beim Schlussapplaus gab es Standing Ovations. Ein großer Teil des begeisterten Publikums erhob sich spontan von seinen Sitzen und geizte nicht mit lautstarken Ovationen. Viele Bravorufe wurden hörbar. Offenkundig wurde, dass diese aus der Feder des Rappers und Mitgliedes der Stuttgarter Hip-Hop-Gruppe Markus Winter, auch bekannt als Maeckes, stammende und von den komponierenden Brüdern Vivan & Ketan Bhatti in Musik gesetzte neue Oper den Nerv des zahlreich erschienenen Auditoriums traf. Daran hatten auch die Inszenierung von Martin G. Berger, das Bühnenbild Sarah-Katharina Karls und der für die Kostüme verantwortliche Alexander Djurkov Hotter einen nicht zu knappen Anteil.
Das Ganze beruht auf einer Geschichte der Herren Winter und Berger, die Märchen und Gegenwart geschickt miteinander verbindet. Die Hauptintention der beiden Autoren besteht in der Herstellung einer Verbindung der Jetztzeit zum Deutschen Herbst mit seinem ausgeprägten RAF-Terror von 1977. Stuttgart spielt dabei eine wesentliche Rolle. Im Stuttgarter Stadtteil Stammheim fand der Prozess gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die erste Generation der RAF, statt. Gudrun Ensslin ist in Stuttgart Bad – Cannstatt als Tochter eines Pfarrers aufgewachsen. Demgemäß hat der Bezug des Roten Wales zur Landeshauptstadt Stuttgart durchaus seine Berechtigung.

Die Librettisten versehen das Stück mit einer Rahmenhandlung: Eine Schulklasse geht in die Oper. Auf dem Spielplan steht ein Stück über die RAF. Es fehlt die Schülerin Isi, die auf dem Weg zur Oper von der Polizei angehalten und kontrolliert worden ist. Um sich zu beruhigen, raucht die zu spät im Opernhaus eintreffende Isi mit ihrem Freund Pip einen Joint. Danach betreten sie gemeinsam den Zuschauerraum. Die Oper beginnt mit dokumentarischen Tonaufnahmen aus der Zeit des Deutschen Herbstes. Immer mehr taucht Isi in diese Welt ein, und umgekehrt die Welt in sie. Im Folgenden wird aus Isi das Orca-Mädchen Gladis. In zunehmendem Maße überlagern sich die Zeitebenen der Gegenwart und des Deutschen Herbstes. Ein kurzer Überblick über die Thematik der Oper ist im Programmheft auf S. 8. nachzulesen: Eine junge Frau versucht, sich gesellschaftlich und politisch zu positionieren. Wie gegen empfundenes Unrecht vorgehen? Wofür lohnt es sich, zu kämpfen? Und mit welchen Mitteln? Die RAF und der Prozess in Stuttgart – Stammheim dienen dabei als historischer Fluchtpunkt. Gewalt und Widerstand werden hier eindringlich thematisiert und dabei wird zudem die Frage aufgeworfen, ob der Zweck immer die Mittel heiligt. Und wenn man Frieden nicht auf friedliche Art und Weise zu erreichen vermag, ist dann die Flucht zu radikaleren Mitteln – wie beispielsweise Militanz und Terrorismus – zulässig? Mit Blick auf die Moral wird man diese Fragen wohl verneinen müssen. Gleichzeitig ist es notwendig, sich zu überlegen, wie man heutzutage schreiendem Unrecht begegnen kann und welche Mittel einem dafür zur Verfügung stehen. Hier fühlt man sich an die Proteste sowohl der Letzten Generation als auch derjenigen gegen das großangelegte Bahnprojekt Stuttgart 21 erinnert. Ferner werden Thomas Hobbes Idee des Gesellschaftsvertrages in seiner 1651 entstandenen Schrift Leviathan und die Gewaltlosigkeit mit ins Spiel gebracht. Leviathan ist nach Hobbes der Staat, gegen den die RAF in gleichem Maße kämpft wie die Walfänger in Hermann Melvilles Roman Moby Dick gegen den Weißen Wal. Auch die Parallele zu Moby Dick ist offenkundig, versah Gudrun Ensslin doch alle ihre Mitstreiter mit Codenamen aus Melvilles Buch.
Mit diesen Problemen sieht sich Gladis Blanca konfrontiert. Diesen Wal gibt es wirklich, wie Ingo Gerlach, der Chefdramaturg der Stuttgarter Staatsoper, auf S. 16 des Programmheftes zu berichten weiß: Gladis Blanca, eine Orca, die in der Meerenge von Gibraltar Boote rammt und ihre Technik an andere Orcas weitergibt. Mehrmals wurde sie von Schiffen und Booten gerammt und dabei verletzt. Auch sie erscheint zu spät in der Walschule, der die drei Leviathans als Lehrer vorstehen. Ihr gesamtes Denken und Handeln ist auf Rache ausgerichtet. Gnadenlos will sie das größte Schiff der Menschen versenken. Der in einer transparenten Kapsel auf dem Meeresgrund lebende Techbillionär Lone bietet ihr seine Hilfe an, die von Gladis dankbar angenommen wird. Im Tausch gegen eine ihrer Flossen verleiht er Gladis für 24 Stunden menschliche Gestalt. Rusalka und Arielle lassen grüßen. Die Parallelen zu diesen Märchenstoffen sind durchaus gewollt. Als junges Mädchen findet sich Gladis in Stuttgart wieder, wo sie prompt in eine von Abad und Ge geleitete Demonstration gerät. Diese beiden Guerillas weisen Züge von Andreas Baader und Gudrun Ensslin auf, sind aber keine Eins-zu-Eins-Übersetzungen dieser beiden RAF-Führer. Gladis wird von Abad und Ge in ihren Kreis aufgenommen und gleich zu einem Anschlag auf das Riesenaquarium eines Luxusrestaurants hinzugezogen.

Nach der Explosion versucht Gladis die Fische zu retten, während Abad und Ge auf Flucht bedacht sind – jedoch erfolglos. Die drei werden von der Polizei verhaftet. Gladis soll zugeben, dass ihr Vorname Ulrike ist. Die Parallele zu Ulrike Meinhof ist klar. Gladis Zeit als Mensch läuft ab. Der Leviathan bietet ihr an, in ihr altes Leben zurückzukehren, was sie indes ablehnt. Sie bleibt bei Abad und Ge und sucht bei ihnen vergebens nach dem fristverlängernden Kuss der wahren Liebe. Schließlich kommt sie auf die Idee, dass die wahre Liebe nicht die zu einem Menschen, sondern die zu einer Idee ist. Sie erkennt die Zusammenhänge und macht Ge darauf aufmerksam, dass sie alle Figuren einer Oper sind. Die Zuschauer könnten als Geiseln genommen werden, meint Ge und bedroht Pip mit einer Pistole. Die Situation eskaliert. Schließlich stellt der von Gladis zur Hilfe herbeigerufene Leviathan die Ordnung wieder her. Die Überschneidungen der Ebenen sind abgeschlossen. Gladis Zeit ist nun abgelaufen. Sie kehrt in das Wasser zurück. Dort trifft sie erneut auf den Techbillionär Lone, der ihr nun als Lohn für seine Hilfe eine ihrer Flossen abschneidet.
Vollauf gelungen ist die Inszenierung. Martin G. Berger inszeniert in schönen, stimmigen Bildern, ohne dabei jemals den Gegenwartsbezug aus den Augen zu verlieren. Dazu bemüht er die unterschiedlichsten Theatermittel. Insgesamt entzieht sich das Ambiente seiner Regiearbeit einer konkreten zeitlichen und stilistischen Verortung. Es kommt zu mannigfaltigen Verschiebungen, die auch auf die nicht eindeutig gezeichneten Handlungsträger durchschimmern. Diese bleiben die ganze Zeit über nicht fassbar und mehrdeutig. So erscheint die Figur des Abad in immer neuen Aufmachungen, die von einem Ludwig XIV-Verschnitt bis zu Che Guevara reichen. Ge ist von der Regie ungemein stark und rätselhaft gezeichnet und weist ein Maximum an ausgeprägter Energie auf. Zentrale Relevanz kommt dem Nebel zu, der die Bühne dominiert und aus dem Dinge und Gestalten immer wieder auftauchen und dann auch wieder verschwinden können (vgl. Programmheft S. 21). So entsteht eine abgehobene, phänomenale Sphäre ganz eigener Art, die der gelungenen Produktion ihren überzeugenden Stempel aufdrückt. Bemerkenswert ist auch, wie der Regisseur die Überlappung der verschiedenen Ebenen aufzeigt, wobei er nie in eine Form von Dokumentartheater abzugleiten droht, das er offenbar vermeiden will.
Dass sich Berger trefflich auf die Lehren Bertolt Brechts versteht, wird bereits zu Beginn deutlich, als die vierte Wand von ihm grandios durchbrochen wird. Sobald die Zuschauer ihre Plätze eingenommen haben, tritt eine im Foyer der rechten Parkettseite des Stuttgarter Opernhauses platzierte Live-Kamera in Aktion. Auf einer riesigen Leinwand, die die Bühne zunächst abschließt, sieht man zuerst die Schulklasse mit Pip und den Lehrern, später dann Isi die Staatsoper betreten. Der erste große Dialog zwischen Isi und Pip findet noch im Foyer statt, bevor sie schließlich den Zuschauerraum und dann auch die Bühne betreten. Auch der Außenbereich der Württembergischen Staatstheater wird manchmal auf diese Art eingefangen und auf die Leinwand projiziert (Video: Vincent Stefan). Einen gewaltigen Eindruck hinterlässt der Schluss der Aufführung. Ein Wal springt in dem der Stuttgarter Staatsoper benachbarten Eckensee behände rauf und runter. Der See tritt über seine Ufer. Das Opernhaus wird gänzlich überflutet und der Wal zu guter Letzt Opfer eines Sprengstoffanschlages.

Ebenfalls gefällig mutet die Mischung aus märchenhaften und zeitgenössischen Elementen an. Man scheint hier auf dem Grund des Meeres zu leben, in dem sich eine Vielzahl großer und kleiner Fische tummelt. Vom Schnürboden schwebt der Leviathan, der Urahn aller Wale, herab. Er hat das gewaltige Maul weit aufgerissen und präsentiert dem Auditorium seine scharfen Zähne. Ihn wird man im Lauf der Aufführung immer wieder zu Gesicht bekommen. Die Leviathan-Lehrer sind zunächst mit kleinen Walköpfen ausgestattet, später werden sie als echte Menschen vorgeführt. Isi/Gladis stellt Berger ein durch die Luft schwebendes Double mit Walfischflosse zur Seite. Dieses wird beispielsweise an Stelle des menschlichen Mädchens von einer Schar weißgewandeter Ärzte malträtiert. Am Ende ist sie es, der die Flosse abgeschnitten wird. Das ist ein stimmiger Regieeinfall. Beeindruckend ist, wie sich immer wieder die Gitter des Stammheimer Gefängnisses vom Schnürboden herabsenken und auf diese Art und Weise einen trefflichen Bezug zu den in Stammheim inhaftierten Terroristen herstellen. Einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen die den Sitzen des Stammheimer Gerichtssales nachempfundenen Stühle. In der Szene mit der Geiselnahme lässt der Regisseur dann das Publikum sich in einem riesigen Spiegel reflektieren. Geschickt wird es derart seitens der Regie in das Spiel mit einbezogen. Gleichzeitig hält Berger den Besuchern damit den sprichwörtlichen Spiegel vor und schreit seine lautstarke Mahnung in den Raum, Verhältnisse wie diejenige des Deutschen Herbstes von 1977 niemals wieder in Deutschland aufkommen zu lassen. Diese Warnung hat sicher ihre Berechtigung. Insgesamt haben wir es hier mit einer stringenten, atmosphärisch dichten sowie von einer flüssigen Personenregie dominierten spannenden Inszenierung zu tun, die sich tief in das Gedächtnis eingräbt.
Musikalisch kann sich der Rote Wal sehen lassen. Gekonnt verwenden die beiden Komponisten Vivan & Ketan Bhatti zahlreiche musikalische Stile. Ihre vielschichtige Partitur setzt sich aus Hip-Hop, Rock, Jazz, Musical, Oper und Musiktheater zusammen, woraus ein sehr differenzierter und abwechslungsreicher Klangteppich resultiert. Insbesondere auf den Hip-Hop legen die Komponisten-Brüder großen Wert als eine Musiksprache, die in den 1970er Jahren als Widerstands- und Protestbewegung entstanden und zu einer der weltweit erfolgreichsten Subkulturen geworden ist, die es überhaupt gibt (Programmheft S. 17). Und Rap wird zur Musik des Widerstands (Programmheft S. 17). Es wird sowohl gesungen als auch gesprochen. Großes Gewicht erhält dabei das gerappte Wort. Alles das wird in einer ausgesprochen intensiven rhythmischen Prägnanz präsentiert. Vieles an dieser Musik klingt ausgesprochen zeitgemäß. Andererseits warten die Brüder Bhatti aber auch mit ausgesprochen schönen Streicher-Kantilenen auf, denen zuzuhören Freude bereitet. Alle diese unterschiedlichen Aspekte wurden von der Dirigentin Marit Strindlund und dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart brillant und mit großer Prägnanz herausgearbeitet. Die Dirigentin hatte die Musiker sicher im Griff und animierte sie zu einer intensiven und von enormer Verve geprägten Tongebung.

Zum größten Teil überzeugend waren die gesanglichen Leistungen. Madina Frey gab mit imposantem Musical-Sopran eine eindringliche Isis/Gladis, die sie auch einprägsam spielte. Einige Höhen, wie beispielsweise bei ihrem Rache-Gesang, gerieten ihr allerdings zu spitz und scharf. Einen hervorragenden, voll und rund klingenden und dabei sehr differenzierungsfähigen und nuancenreichen Tenor brachte Matthias Klink in die Partie des Abad ein. Wunderbar war Josefin Feiler anzuhören, die als Ge keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass ihr bestens fokussierter, strahlender und immer kräftiger werdender Sopran allmählich deutlich zum jugendlich-dramatischen Fach hin tendiert. Gut gefielen die tadellosen Stimmen von Deborah Saffery (Leviathan 1), Jasper Leever (Leviathan 2, Vater Fei) und Yunus Schahinger (Leviathan 3). In der Partie des Lone bewährte sich Maeckes. Die Sprechrolle des Pip gab Baron. Mächtig ins Zeug legte sich der von Manuel Pujol gewissenhaft einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.
Fazit: Ein in jeder Beziehung stark unter die Haut gehender Premierenabend, der die Fahrt nach Stuttgart wieder einmal voll gelohnt hat!
Ludwig Steinbach, 20. Juni 2025
Der rote Wal
Vivan & Ketan Bhatti
Staatsoper Stuttgart
Premiere und besuchte Aufführung: 18. Juni 2025
Inszenierung: Martin G. Berger
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Staatsorchester Stuttgart