Stuttgart: „Dora“, Bernhard Lang

© Martin Sigmund

Zu einem regelrechten Paukenschlag geriet die zweite Aufführung von Bernhard Langs vor kurzem aus der Taufe gehobener, ungefähr anderthalbstündiger Oper Dora an der Staatsoper Stuttgart. Das Libretto, das eine Anspielung auf historische und mythologische Stoffe darstellt, stammt von Frank Witzel. Bereits einige Zeit vor der Uraufführung hatte die Württembergische Staatsoper im Raum Stuttgart eine Plakatkampagne gestartet mit der Frage Who the Hell ist Dora? Diese Frage, wer Dora ist, wird im Programmheft gleich mehrfach beantwortet. Das gesamte Leitungsteam hat dazu etwas zu sagen. Für Frank Witzel ist Dora eine junge Frau, die in dieser Situation einen Weg sucht, ohne genau zu wissen, was sie will (Programmheft S. 17). Bernhard Lang interpretiert sie als Stimme. Eine Stimme, die aus einer Zeit heraus spricht und damit eine Spiegelung dessen ist, was sie umgibt (Programmheft S. 17).Für die Regisseurin Elisabeth Stöppler ist Dora eine Leerstelle…, eine sehr wortgewaltige und pulsierende Leerstelle (Programmheft S. 40). Bühnen- und Kostümbildner Valentin Köhler erblickt in ihr eher einen Zustand als eine Figur (Programmheft S. 41). Und Stückdramaturg Miron Hakenbeck empfindet sie als schwarzes Loch…, eine unglaubliche Gravitation, die alles aufsaugt (Programmheft S. 40). Das sind alles logische Interpretationen der Titelfigur. Meiner Ansicht nach stellt die Protagonistin eine Art weiblichen Faust dar, der getrieben ist von einer gänzlich perspektiv- und ziellosen Suche. Sie ist eine nach dem Sinn des Lebens suchende Frau Mitte 20 ohne tiefschürfende Optionen, die sich aus ihrer verhassten kleinbürgerlichen und von innerer Leere und Gleichgültigkeit geprägten Umwelt sowie der langweiligen Familie heraussehnt und schließlich den Teufel anruft. Als dieser schließlich erscheint, erkennt sie den als modernen Beamten in schwarzem Anzug mit Aktentasche auftretenden Herrn der Hölle nicht.

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Durch diese Kostümierung rutscht der Satan nicht in ein traditionelles Klischee ab, sondern wird auch für unsere Gegenwart glaubhaft. Er ist eine fiktive Figur, ein religiöses Überbleibsel aus einer Welt, die der Feministin Dora fremd ist (so Miron Hakenbeck). Am Ende erscheint er in Gustaf Gründgens‘ Mephisto-Kostüm). Hier wie da vermag er Dora, deren Lebensperspektiven gänzlich gescheitert sind, aber nichts zu geben. Er befindet sich in einer ausgemachten Identitätskrise. Die Menschen nehmen ihn nicht mehr wahr, weswegen er seine Funktion eingebüßt hat. Das hindert ihn allerdings nicht, böse Handlungen zu begehen. So treibt er durch Verleumdungen den in Dora unglücklich verliebten Landratsamt-Sekretär Berthold in den versuchten Selbstmord. Nach dem Scheitern seines Suizids landet Berthold im Rollstuhl und befindet sich nun in einer geistig sehr instabilen Lage. Das von ihm ins Spiel gebrachte Sondern lässt den Teufel schlussendlich scheitern. Dora weiß mit dem Satan ebenso wenig anzufangen wie mit den Einflüsterungen des Chores, der von den trefflich singenden Neuen Vocalsolisten gebildet wird. Dieser Chor hat wie in der Antike die Funktion eines Kommentators. Er stellt Fragen und bewertet das Geschehene. In ihm vereinigt sich das gesamte kulturelle Erbe der Menschheit. Bereitwillig gibt er Ratschläge zur Lösung der aufgetauchten Konflikte.

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Bernhard Lang hat eine eindrucksvolle Komposition geschaffen. Zu Beginn und am Ende ertönt aus den Logen  des ersten Ranges das imposante Schlagwerk. Dieses symbolisiert die ausgeprägte Energie Doras. Lang und Witzel setzen sie gekonnt mit so mancher Heroine der Vergangenheit gleich, so mit Brünnhilde und Elektra. So erklärt sich Langs Spiel mit Zitaten aus der Musikgeschichte, die durch Synthesizer-Klänge verfremdet werden. Bereits ganz am Anfang ertönt ein Zitat aus Wagners Götterdämmerung, und zwar die einleitende Musik der drei Nornen. Wie dort das Schicksalsseil reißt, lässt Lang hier auch den zeitlichen Faden für Dora reißen, wie er im Programmheft auf S. 28 bekennt. Am Ende der Oper erklingt aus der Götterdämmerung zu einem sehr ergreifenden Gesang Doras noch das Erlösungs-Motiv. Bereits unmittelbar nach den Wagner-Klängen des Beginns bahnt sich das Agamemnon-Motiv aus Strauss‘ Elektra den Weg nach vorne. Im zweiten Akt, in dem Dora zum ersten Mal dem Teufel begegnet, werden Anklänge aus Gounods Faust hörbar. Sehr passend wartet Lang im dritten Akt mit einem Thema aus Verdis Otello auf, als der Teufel gleich Jago mit Hilfe von ausgeprägten Lügen den armen Berthold gekonnt in die Eifersucht treibt. Nur kurze Zeit später stimmt Berthold bei der Schilderung von Doras grünem Kleid sehr gefühlvoll ein Lied aus Schuberts Die schöne Müllerin an – einer der stärksten und eindringlichsten Momente der ganzen Oper! Auch Pink Floyd  wird bemüht. Diese Referenzen an die Vergangenheit sind sehr schön anzuhören. Darüber hinaus haben wir es hier mit einer ungemein intensiven, stark rhythmusbetonten Musik zu tun. Das kammermusikalisch besetzte Orchester besteht nur aus 25 Musikern. Diese verstehen es indes trotz ihrer eingeschränkten Größe ausgezeichnet, die zu dem Werk passende Atmosphäre zu schaffen. Es ist ein musikalisch wahrlich außergewöhnlicher Trip, geprägt von einem markanten Pulsschlag, der nicht nur von der bereits erwähnten Schlagzeuggruppe erzeugt wird. Bemerkenswert ist auch Langs Loop-Technik, das sind die ständig wiederkehrenden Wiederholungsschleifen, die Doras Gefangenschaft in immer demselben eintönigen Trott symbolisieren. Bemerkenswert ist indes, dass jeder Loop anders gestaltet ist. Kompliziert muten Langs rege ins Feld geführten Vierteltöne an. Das Vokale changiert zwischen Gesang, Sprechgesang und reinem Sprechen. Dies alles wird von der Dirigentin Elena Schwarz zusammen mit dem blendend disponierten Staatsorchester Stuttgart mit einem Höchstmaß an Energie und Intensität vor den Ohren des begeisterten Zuhörers ausgebreitet. Diesem rigorosen musikalischen Klangmeer, das von Frau Schwarz so hervorragend ausgelotet wird, kann man sich nur schwer entziehen.

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In hohem Maße gelungen ist auch die Inszenierung. Elisabeth Stöppler und Valentin Köhler erteilen jeder konkreten Verortung des Geschehens eine klare Absage und siedeln das Ganze in einem abstrakten Rahmen an. Die Handlung  spielt sich in einem weißen, hellen Echo-Raum ab, in dem Dora eine Seelenreise antritt. Dieser surrealistisch anmutende Trip geht nicht ins Äußere, sondern driftet ganz und gar in das Innere der Protagonistin ab. So wenig wie sie sich nach außen hin bewegt, so ausgeprägt ist ihr Weg nach innen. Ganz Kleines wird hier zum ganz Großen. Der Raum, der ein Modell ihrer Gedanken und Gefühle bildet, ist ganz ihr zugeordnet. Es ist nur zu verständlich, dass hier eine Reihe von überdimensionalen Buchstaben ihren Namen bildet. Dora ist sowohl Ort als auch Zeit. Und wenn die Hinterwand auf einmal nach hinten in sich zusammensinkt, ist das als Beginn von Doras Reise in ihr Inneres zu verstehen. Zu Beginn sieht man sie und ihre Familie inmitten des Chores still und bewegungslos stehen. Obwohl ein Kollektiv bildend, scheinen hier alle Personen in Wirklichkeit einsam zu sein. Diese Einsamkeit wird erst ganz am Ende aufgehoben, wenn Dora und der lädierte Berthold zusammenstehen. Auch erhält ihr Leben, indem sie sich um ihn kümmert, endlich den angestrebten Sinn. Berthold hat eine neue Option geschaffen, die von Dora bereitwillig angenommen wird. Auf diese Weise erlang sie endlich die so lange ersehnte Befreiung. Der dritte Akt wird gänzlich von einem Gerüst geprägt. In dem Augenblick, in dem Berthold seine Hosen herunterlässt, beginnt auch Dora sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Man merkt, hier gehen beide in ihren Meinungen gänzlich konform. Behände schlägt sie sich auf die Seite des sie liebenden Mannes. Zuvor hatte sie bereits das Gespräch zwischen Berthold und dem Teufel belauscht, obwohl Lang in diesem Akt für sie gar keinen Auftritt vorgesehen hat. Mit Tschechow‘ schen Elementen kann die Regisseurin umgehen, das muss man sagen! Immer wieder geistern die Chormitglieder über die Bühne, manchmal in geradezu seltsam gestalteter Aufmachung. Stellvertretend seien hier nur die komischen großen Ohren erwähnt. Die von Vincent Stefan kreierten Videos und Projektionen wirken angesichts ihrer Größe oft bedrohlich. Hier wird offenkundig, dass Doras Familie genauso böse ist wie der Teufel. Die Figuren ihres Alltags, auf die die Titelfigur immer wieder trifft, sind größtenteils Projektionen ihrer selbst. Die Trennlinie zwischen Realität und Traum wird von der Regie nicht immer klar gezeichnet, aber das ist wohl beabsichtigt. Insgesamt eröffnet die kluge Inszenierung einige Assoziationsräume und überlässt es dem Zuschauer, eine eigene Auslegung des Gesehenen zu finden. Das war seitens der Regie alles höchst überzeugend.

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Zum größten Teil ansprechend waren die gesanglichen Leistungen. Mit einem Maximum an ausgeprägter Intensität stürzte sich Josefin Feiler in die Partie der Dora, die sie äußerlich mit einer ungemein intensiven Darstellung und vokal mit einem trefflich fokussierten, ungemein wandlungs- und differenzierungsfähigen lyrischen Sopran aufs Beste auslotete. Mit der Dora hat die junge Sopranistin eine absolute Glanzrolle für sich gefunden. Von der schauspielerischen Seite her ausgesprochen gut präsentierte sich der Teufel von Marcel Beekman. Gesanglich konnte er mit seinem gänzlich der nötigen Körperstütze entbehrenden Tenor leider nicht überzeugen, obwohl er mit der vertrackten Höhe auf seine Weise durchaus zurecht kam. Mit bestens italienisch fokussiertem und sehr emotional geführtem Bariton stattete Elliott Carlton Hines den Berthold aus, den er auch einfühlsam spielte. Mit tadellosen Stimmen beeindruckten Shannon Keegan (Schwester), Maria Theresa Ullrich (Mutter) und Stephan Bootz (Vater). Den Bruder sang Dominic Große, dessen Tenor sich verbessert hat, seit ich ihn das letzte Mal gehört habe.

Fazit: Eine ungemein spannende Aufführung, deren Besuch jedem Opernfreund dringendst ans Herz gelegt wird! Wieder einmal hat sich die Fahrt nach Stuttgart voll und ganz gelohnt. Es bleibt zu hoffen, dass diese bemerkenswerte neue Oper von anderen Bühnen ebenfalls aufgeführt wird.

Ludwig Steinbach, 10. März 2024


Dora
Bernhard Lang

Staatsoper Stuttgart

Uraufführung
Premiere: 3. März 2024
Besuchte Aufführung: 8. März 2024

Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Musikalische Leitung: Elena Schwarz
Staatsorchester Stuttgart

Preview

Trailer

SWR Beitrag