Stuttgart: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

Vollauf gelungen war am dritten Advent die im Rahmen einer Nachmittagsvorstellung stattgefundene Wiederaufnahme von Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel an der Stuttgarter Staatsoper. Regisseur Axel Ranisch ist zusammen mit Saskia Wunsch (Bühnenbild) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) ein großer Wurf gelungen. Ranisch hat das Werk geschickt modernisiert  und zusammen mit seinem Team hochkarätig auf die Bühne gebracht. Von seiner Arbeit dürften sich nicht nur Erwachsene in hohem Maße angesprochen fühlen. Auch für Kinder ist die Aufführung gut geeignet. Diese Produktion ist für Angehörige aller Altersgruppen ein echter Hochgenuss.

© Matthias Baus

Ranisch deutet Hänsel und Gretel als zwei zeitgenössische Teenager. Der langhaarige Hänsel hat seine Mütze verkehrt herum auf und trägt damit den Gewohnheiten so mancher heutiger Jugendlichen Rechnung. Die Besen bindet er aus Drähten. Auch dieser Aspekt gemahnt stark an die Gegenwart. Gretel benötigt eine Brille. Das verleiht ihr einen intellektuellen Anstrich. Die Griesgram-Szene scheint einem Mantel-und-Degen-Film entsprungen zu sein. Auf ausgelassenes Herumtollen verstehen sich die Geschwister ausgezeichnet. Als sie mit ihrer Tanzeinlage beginnen, stürmt eine Anzahl weiterer Kinder die Bühne und nimmt an dem Tanz teil. Dieser Einfall ist zwar nicht mehr neu, aber recht ansprechend. Der Milchtopf geht bei Ranisch nicht zufällig zu Bruch. Hänsel zerbricht ihn absichtlich – eine unüberlegte Tat, die der Junge dann auch sofort bereut und darob in Tränen ausbricht.  Die Mutter Gertrud verwechselt sein Weinen mit Lachen und gerät nur noch stärker in Rage. Zornig befiehlt sie den Kindern, in den Wald zu gehen und Erdbeeren zu suchen.

Ob Hänsel und Gretel aber auch Erdbeeren finden werden, kann bezweifelt werden, denn der Wald ist abgebrannt. Zu Beginn des Vorspiels erglänzt er noch in seiner alten Pracht. Dann aber züngeln gewaltige Flammen auf, denen er gnadenlos zum Opfer fällt. Eine durch den von Menschen heraufbeschworenen Klimawandel verursachte extreme Hitze hat offenbar die Katastrophe ausgelöst. Dass es in einem verkohlten Wald keine Nahrungsmittel mehr gibt, ist nachvollziehbar.

© Matthias Baus

Das Versorgungssystem ist gänzlich zusammengebrochen. Und hier kommt die in dieser Inszenierung überhaupt nicht alte und hässliche, sondern noch relativ junge, elegant gekleidete und blonde Hexe ins Spiel. Nur sie hat in dieser Produktion noch etwas zu essen anzubieten. Bei Ranisch treten Drops an die Stelle der herkömmlichen Lebkuchen. Diese farbigen Leckereien lässt die Hexe in ihrem Leckermaul genannten Konzern produzieren. Und diese Vorgehensweise ist von Erfolg gekrönt. Sie nimmt an, mit dieser Wohltätigkeitsarbeit etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun. Sie ist darauf aus, damit ihre Grausamkeiten zu legitimieren, ohne Bestrafung fürchten zu müssen. Das Bewusstsein für das Maliziöse ihrer Handlungsweise ist ihr abhanden gekommen, und auch die sie umgebende Gemeinschaft ist von ihr in diesem Sinne geformt worden.

Ein trefflicher Regieeinfall ist es, dass die Hexe hier bereits im zweiten Akt auf Hänsel und Gretel trifft. Während Gretel ihr Lied Ein Männlein steht im Walde zum Besten gibt, schenkt die Magierin Hänsel einige Drops, die sie einer mitgeführten Handtasche entnimmt. Auf Tschechow’sche Elemente versteht sich Ranisch hervorragend. Bereits während des ersten Aktes erblickt man eine Schar Kapuzenträger, die sich im Folgenden als instrumentalisierte Geschöpfe der Hexe erweisen. Ihre hell erleuchteten Besen rufen Assoziationen an die Lichtschwerter in Star Wars hervor. Sie nehmen in der Pantomime des zweiten Aktes die Stelle der vierzehn Engel ein. Ob sie den Geschwistern Böses wollen, bleibt an dieser Stelle noch offen, jedenfalls werden sie von dem bereits hier auftretenden Taumännchen erfolgreich verjagt. Richtig offenkundig wird das Böse erst im dritten Akt. Gretel entdeckt, dass die Drops aus den von der Hexe gefangenen Kindern hergestellt wurden. Dieser Fakt ist so recht dazu geeignet, ihr gründlich den Appetit zu verderben. Da verwundert es nicht, dass sich die Einstellung von Hänsel und Gretel zum Thema Essen in der Folge radikal ändert. Überzeugend ist das Ende gelungen.

© Matthias Baus

Die Hexe wird nicht von den Geschwistern, sondern von den Kapuzenmännern, die sich dergestalt aus ihrer Knechtschaft befreien, überwältigt. Jetzt ist auch diese Nahrungsquelle zusammengebrochen. Die Versorgung der Menschen mit Drops ist versiegt. Die Hungersnot hat demzufolge kein Ende gefunden. Als letzter Hoffnungsschimmer bleibt das Nahrung verteilende Taumännchen. Dem Prinzip Hoffnung misstraut Ranisch aber und versieht es mit einem riesigen Fragezeichen. Zum Schluss offenbart sich, dass die Hexe hier nicht tot ist, sondern nur in einer riesigen Röhre am linken Bühnenrand gefangen gehalten wird – ein ansprechender neuer Regieeinfall. Das war vom Regisseur alles ausgesprochen gut durchdacht und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend auf die Bühne gebracht.

Am Pult entlockte GMD Cornelius Meister dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart sehr poetische und an keiner Stelle zu laute Töne. Die Sänger wurden nie zugedeckt. Die volksliedhaften Stellen gelangen Meister ebenso überzeugend wie die an Wagner gemahnenden Passagen. Darüber hinaus wurden die Strukturen von Humperdincks herrlicher Musik von ihm gekonnt herausgearbeitet und zudem mit einer reichhaltigen Farbpalette aufgewartet.

Insgesamt zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Einen pastosen, tiefgründigen und hervorragend italienisch fokussierten Mezzosopran brachte Diana Haller für den Hänsel mit. Tamara Banjesevic als Gretel erreichte das hohe Niveau ihrer Kollegin nicht ganz, war mit ihrem solide gestützten, mühelos bis zum hohen c heraufreichenden Sopran aber passabel. Schon darstellerisch ungemein überzeugend war die Hexe von Rosie Aldridge. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrer voluminösen tiefen Mezzosopran-Stimme stark für sich einzunehmen. Ein markant singender Besenbinder Peter war Jasper Leever. Eine lediglich mittelmäßige Leistung erbrachte Clare Tunney in der Partie der Gertrud. Recht angenehm sang Shannon Keegan das Sandmännchen. Mit sehr emotional timbriertem, schön dunkel klingendem Sopran wertete Laia Vallés die kleine Rolle des Taumännchens auf. Gut gefiel der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Ludwig Steinbach, 12. Dezember 2022


„Hänsel und Gretel“
Engelbert Humperdinck

Staatsoper Stuttgart

Besuchte Aufführung: 11. Dezember 2022 (Premiere: 6. Februar 2022)

Regie: Axel Ranisch
Dirigat: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart