Lieber Opernfreund-Freund,
eine tief bewegende Aida präsentiert das Staatstheater Darmstadt als erste Musiktheaterproduktion der neuen Spielzeit. Regisseurin Noa Naamat stellt beklemmende Parallelen zu aktuellen Konflikten im Nahen Osten her und sorgt damit für Gänsehaut auf mehreren Ebenen.

„Solange man sich zurückerinnern kann, herrscht Krieg mit den Nachbarn“, heißt es in der Einleitung im Programmheft. Und dieser Konflikt spielt sich nicht unter Pyramiden ab, denn frei von jeglichem Ägypten-Kitsch zeigt die aus Israel stammende Regisseurin, wohin religiöser Fanatismus, Besitzdenken und Rachelust führen. Auf der von ihr und Bettina John gestalteten Drehbühne steht ein zerstörtes Haus, wie wir es aus den Bildern aktueller Nachrichtensendungen kennen, ein umgestürzter Turm, Haufen von Schutt, auf denen Kinder spielen – und zeigt damit, da das die Seite der Sieger ist, dass der Krieg nur Verlierer hervorbringt. Zu ihnen gehört auch Radames, den Naamat nicht als strahlenden Kriegshelden präsentiert, sondern als tief traumatisiert von den Kämpfen, welche sie im Triumphmarsch als beklemmende Rückblende zeigt. Sinnfällig steckt Bettina John den Pharao, den die einen um Rache, die anderen um Gnade anflehen, in ein Richtergewand. Die Priester werden zu Kämpfern: Die Religion ist zum Anhängsel der Armee verkommen. Die Liebe der Kriegsgefangenen Aida und des Soldaten Radames wird in diesem Krieg aufgerieben, hat von Beginn an keine Hoffnung auf ein Happy End.

Noa Naamat wählt teils so drastische Bilder, dass sich das Theater zu entsprechenden Warnungen beim Betreten des Hauses gezwungen fühlt, spielt Bomben- und Kampfeslärm ein, und auch wenn ihrer Regie in der zweiten Hälfte des Abends ein wenig der Sogcharakter der ersten abhandenkommt, gelingt ihr gerade in der offen zur Schau gestellten Brutalität ein eindrücklicher Friedensapell: Amneris kritzelt im letzten Bild „Pace“ (Frieden) an die zerbombte Häuserwand, hinter der Aida und Radames sterben werden.

Musikalisch wird einiges geboten am gestrigen Samstag: Megan Marie Hart ist eine wunderbare Aida. Betörend in den Höhen und fast kehlig in der Mittellage, drückt sie die tiefe Verzweiflung ihrer Figur gekonnt aus und fesselt die Zuschauer von Beginn an. Da verzeihe ich ihr gerne die beiden vergessen Zeilen in der großen Nilarie. Der Radames von Matthew Vickers besticht durch glänzende Höhen, und für die Darstellung des gebrochenen Kriegshelden gebührt ihm sicher der Bühnen-Oscar des gestrigen Abends. Die Interpretation des US-amerikanischen Sängers geht einfach unter die Haut. Aris Argiris lässt als Amonasro seinen eindrucksvollen Bariton erschallen, kommt kraftvoll und energisch daher, wenn er seine Tochter verflucht, und zeigt viel Emotion, wenn er um Gnade für sein Volk bittet. Der Georgier Zaza Gagua gestaltet den Kriegstreiber Ramfis mit profundem Bass, imposanter, durchdringender Tiefe und stimmlicher wie darstellerischer Unerbittlichkeit.

Wesentlich facettenreicher darf KS Katrin Gerstenberger die Amneris gestalten. Das langjährige Ensemblemitglied ist eine echte Sängerdarstellerin, und man nimmt ihr die machtgeile, eifersüchtige Königstochter jede Sekunde ab, wenn sie ihren Mezzo farbenreich und überzeugend einsetzt. Eindrucksvoll präsentieren sich auch die Damen und Herren des von Guillaume Fauchère betreuten Chores und machen damit jeden Auftritt zum Genuss.
Im Graben präsentiert Johannes Zahn, seit vier Jahren Erster Kapellmeister am Haus, einen aufgeweckten Verdi, spielt mit Tempi und Klangfarben, lässt aber nach meinem Geschmack da und dort ein wenig Präzision vermissen. Das tut allerdings dem überzeugenden Gesamteindruck des Abends keinen Abbruch. Diese Produktion ist eine der packendsten seit langem, und das Publikum im ausverkauften Haus ist am Ende ebenso begeistert wie ich.
Ihr
Jochen Rüth
19. Oktober 2025
Aida
Oper von Giuseppe Verdi
Staatstheater Darmstadt
Premiere: 4. Oktober 2025
besuchte Vorstellung: 18. Oktober 2025
Regie: Noa Naamat
Musikalische Leitung: Johannes Zahn
Staatsorchester Darmstadt
weitere Vorstellungen: am 9. und 28. November, 13., 20. und 28. Dezember 2025 sowie am 6. Februar 2026