Eine interessante Rarität galt der ersten Saisonpremiere an der Staatsoper Hannover: Arrigo Boitos „Mefistofele“ taucht zwar immer mal wieder in den Spielplänen auf, doch gehört die mutige Vertonung beider Goetheschen Faust-Teile eher zum Randrepertoire. Das, was man heute spielt ist die zweite Fassung, mit der Boito dann endlich den verdienten Erfolg erreichte, die erste Fassung mit angeblich sechs Stunden Spieldauer war wohl ein echter Durchfall. Unsere heute gespielte Version kommt da mit zweieinhalb Stunden (mit Pause!) aus, also keine Angst, sondern hinein in die wirklich sehenswerte Produktion.
Schon die groß angelegte Einführungsszene, Goethes Vorspiel im Himmel mit der Wette zwischen Mefistofele und Gott, gerät oft zum faden Oratorium mit beeindruckenden Chören, ganz anders in Hannover. Elisabeth Stöppler findet ein sehr heutiges Konzept von hohem szenischen Unterhaltungswert mit Gehalt.
Zurück zum Beginn: auf einer Theaterbühne wird der gefallene Engel Mefistofele, in teuflischem Rot-Schwarz wie ein müder Revoluzzer, von seinen ehemaligen Kollegen schier eingekreist und vor Gott gezerrt. Schon die Engelskostüme sind der Hammer! Die gewaltigen Heerscharen orientieren sich optisch an klerikalem Heiligenkitsch, lassen tatsächlich einen Gott auftreten. Einen unsicheren Gott, in unsicheren Zeiten, den die nicht binäre Schauspielerin Heinrich Horwitz passend verkörpert. Ein Wesen zwischen den Polen männlich und weiblich, das die Aufführung mit Goetheschen und eigenen Texten begleitet, nicht alles davon gelungen, doch nie die Musik oder den Fluß der Aufführung störend. Shavleg Armasi versucht als Gegenpol, das Scheitern des menschlichen Denkens durch den Faust zu belegen. Man braucht so einen beweglichen Darsteller für den komplexen Charakter des Mefistofele, sowohl spielerisch, als auch skeptisch, wie Armasi einer ist. Vielleicht wird sich mancher Vokalconnaisseur eine schwärzere Bassfarbe wünschen, doch an Vielfarbigkeit der Stimme und nuancierter Interpretation reichen im nicht viele Sänger das Wasser. Schon in der ersten Szene beeindrucken natürlich auch die riesigen Chöre, die Hannoverschen Opern-, Extra- und Kinderchöre haben hör-und sichtbar viel Freude an den großen Aufgaben des Werkes; Lorenzo Da Rio und Tatiana Bergh haben sie in allen Lagen, bei allen Tempi hervorragend einstudiert.
Dann hinein ins pralle Leben der Gretchentragödie: eine riesige Puppe wird auf der Bühne zum Synonym für das Menschsein, blumenbekleidet als Triebleben, dann dämonisch aufgeladen als Opfer, später in der Kerkerszene als Rückbesinnung auf Werte und Ursprung. Joki Tewes und Jana Findeklee haben mit der Bühnengestaltung und den wundervollen Kostümen einen ganz wesentlichen Anteil an der Produktion. Hier scheucht Mefisto den Faust manipuliernd durch Trieb, Walpurgisnacht und Verzweiflung, diese Möglichkeit fehlt ihm in der griechischen Kopfwelt Fausts. In einer glitzernd-klinischen Kunstwelt ewiger Jugend und ewigen Lebens scheitert Fausts Wunschdenken an ästhetisiernder Unmenschlichkeit, Plastik gegen Natur. Und doch scheitert Mefisto an der Wette, denn Fausts Wunsch nach Frieden, Schönheit und Freiheit bleibt ungebrochen. Eine kleine Blume der Hoffunug, die uns aus dieser Aufführung hinaus auf die Straßen in unserer zerrissenen Welt begleitet. Das ist gut.
Pavel Valuzhin singt mit hell leuchtendem Tenor die anspruchsvolle Faust-Partie, doch möchte man deutlich anfügen eine Grenzpartie für seine feine Stimme, die ich eher im Belcanto-Fach höre, ein Wechsel in das schwerere Fach hätte da noch reichlich Zeit. Barno Ismatullaeva gefällt in der Doppelrolle Margherita/Elena mit klingendem Sopran, bleibt als Wunschvorstellung Fausts etwas zurückhaltend, erst in der großen Soloszene „L`altra notte “ darf sie einen individuellen Charakter zeigen und gestaltet ihn zu einem Höhepunkt des Abends. Monika Walerowicz und Philipp Kapeller begleiten mit schönen Stimmen und (meistens) sicher als Marta/Pantelis und Wagner/Nereo durch Mittelalter und antikem Griechenland. Ein gewaltiger Motor der Vorstellung steht mit Stephan Zilias am Pult des überzeugendem Staatsorchesters Hannover, die flotten Tempi überraschten mich, vielleicht entsteht so mancher Wackler, doch die Aufführung hatte auf diese Weise einen enormen Sog von Anfang bis Ende.
Im, gerade bei so unbekanntem Werk, recht gut besuchten Haus, mit vielen jungen (!) Menschen, gab es viel Begeisterung und Applaus. Kein Wunder bei so einer so gelungenen, modernen Interpretation. Ein Besuch ist dringend empfohlen!
Martin Freitag, 09.10.2022
Arrigo Boito „Mefistofele“ / Premiere am 24.09.2022 Staatstheater Hannover
Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Musikalische Leitung: Stephan Zilias/James Hendry
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover