Einsamkeit und Coolness – Ein toller Doppelabend
Modernes Tanztheater ist, man weiß es, zugleich einfach und schwer: schwer, weil sich die Bilder, Schritte, Gesten und Wendungen oft einer unmittelbaren Deutung entziehen, leicht, weil der Zuschauer aufgerufen ist, geradewegs zu assoziieren. Eine Hilfestellung erhält er bisweilen durch die Texte der Dramaturgie, aber auch hier gilt: Es kann getanzt und gefühlt sein, was nicht geschrieben steht oder: Es kann geschrieben sein, was kaum getanzt wird. Im Grunde, sagt der moderne Tanztheaterdramaturg, ist es nicht so wichtig. „Assoziieren Sie“, ruft er dem Publikum zu, das allerdings, seitdem Johannes Wieland 2006 mit der Arbeit in Kassel begonnen hat, auch in Kassel schon Einiges an Tanztheater kennengelernt hat. Die Compagnie des Staatstheaters hat unter der Leitung Johannes Wielands die Gegenwart, nach einigen kommunikativen Anfangsschwierigkeiten, für das Publikum erfolgreich ins schöne Haus gebracht.
Das Wichtigste zuerst: es tanzen Rémi Benard, Akos Dozsa, Martin Durov, Laja Field, Gotaute Kalmatavičūte, Victor Rottier, Shafiki Sseggayi und Ann-Christin Zimmermann – und wie sie tanzen! Mit vollem Einsatz, individuell konturiert (auch im Mimischen) und doch als Teile eines begeisternden, homogenen Ensembles.
Und was steht nun im Beipackzettel? „Für Johannes Wieland ist die Zukunft ein realer und unauflöslicher Widerspruch in sich. Ist die Zukunft mehr als das zeitliche Phänomen, das auf die Gegenwart folgt, aber bereits im nächsten Augenblick Vergangenheit ist, also eigentlich nie existiert? Zukunft ist der imaginierte Widerspruch zwischen Behauptung und Erwartung: science! fiction! now!“ Und also tanzen die acht Tänzerinnen und Tänzer in der ausgefuchsten Schlaglichtdramaturgie aneinander vorbei, begegnen sich, trennen sich, umschweben sich, springen sich vor allem sehr schnell und sehr aggressiv an, reichen sich weiter, verharren in Stillstand, küssen sich (auch homoerotisch). „Die Liebe liebt das Wandern“, wie es in der „Winterreise“ heißt, aber hier liebt sie auch die Geschwindigkeit und die Verzweiflung. Grundiert wird dies, sagt Thorsten Teubl, von einer Sehnsucht nach Liebe und Glück, die sich über radikalen, peitschenartigen und dumpf grollenden Beats und Disco-Rhythmen entlädt. Einsamkeit und Coolness, so könnte die Choreographie auch heißen, die mit einem einsamen, weinenden Bartmann beginnt und mit der Ausgrabung von zwei Kondensatormikrophonen älterer Bauart endet. Da spricht frau dann hinein – aber wer hört es?
Dies also ist eine „Handlung“ zur Musik von Donna Summer, Aidan Baker, Ben Frost & Daniel Bjarnason, John King und Ethel: die taumelnden Figuren graben, als wär’s ein absurder Akt, den (von Matthieu Götz entworfenen) Bühnenboden aus und schaufeln wie verrückt den Sand nach oben. Mit hysterischen Wahnsinnsdrehungen, Erinnerungen an Breakdance und Rock’n Roll und langen Blicken ins Publikum hat der Abend begonnen, mit einem offenen Umbau wird er durch die Pause weitergeführt. Was folgt, ist rätselhafter – und sehr schön, auch wenn der Dramaturg der Meinung ist, dass der Israel-Palästina-Konflikt hier jederzeit sichtbar sei.
„’Dog‘ ist ein Schnelldurchlauf durch die Evolutionstheorie: Elefanten, Delphine, Affen und Menschen – sie alle tauchen auf in einer wilden Jagd rund um Darwins ‚Kampf ums Dasein‘ (Struggle for Life). Hofesh Shechter sieht noch lange kein Ende in der Geschichte der Evolution: it’s not ower yet.“ Den Hund, der auf allen Vieren kriecht, sieht man, auch gebückte Gestalten im betörenden Halbdunkel (Licht: Lawrie McLennan), die in Gruppen wedeln oder einzeln kommunizieren, aber schon nach wenigen Minuten driften die Gedanken ab: hin zu seltsamen Menschen, die sich kaum berühren, sich umfangen wollen, sich anziehen und doch abstoßen. Zum einfachen und packenden Rhythmus der Tribal Beats werden wilde und doch konzentrierte Tänze getanzt, zu lauten Verschluss-, Pfeif- und Schmatzgeräuschen entwickelt sich eine ausgeprägte Handarbeit: als wolle man etwas Unsichtbares bilden. Vielleicht sieht man auch Dressurakte. Da ist er dann: der politische Konflikt, der zur Musik von Aleph, Atm, Ophir Ilzetzki, Hofesh Shechter und Sergio Mendes entwickelt wurde.
Am Ende herrscht die pure Kakophonie; der fröhliche Tribal Beat wird vom Chaos übermannt, die musikalische Schicht des „Zuballerns“ aber mündet doch in einem befreienden Schweigen – und das letzte Licht wird schließlich ausgeknipst. „Es ist“, so zitiert das Programmheft Edward O. Wilsons „Einheit des Wissens“, „an der Zeit, dass wir uns mit allen uns zur Verfügung stehenden intellektuellen Werkzeugen als gleichzeitig biologische und kulturelle Spezies erkennen“. Das Ensemble ertanzt sich diesen Erkenntnisprozess mit aggressiven und lyrischen Ausdrucksmitteln. Es sagt uns nicht, was war und was sein könnte, sondern das, was ist: auch unabhängig von Delfinen (den Erfindern einer sehr eigenen, individuumbestimmten Kommunikation) und Hunden. Der Rest sind hinreißende Begegnungen, geheimnisvolle und sanfte Gesten, Berührungen und Abstoßungen.
Riesenbeifall für einen tollen Doppelabend, der – auf sehr verschiedene Arten – das Problem und die Hoffnung auf eine geglückte Kommunikation in die Körper bekommen hat – auch in die Gehirne und Herzen der Zuschauer.
20.3. 2015, Frank Piontek
Fotos: N. Klinger / Staatstheater Kassel