Premiere: 2.4.2011. Besuchte Vorstellung: 25.4.2018
„Wer ist der Mensch?“ Das ist und das war die Frage in Goyo Monteros Tanztheater-Produktionen. Gerade konnte man „Powerhouse“ am Nürnberger Opernhaus sehen, am nächsten Tag sah man wieder „Carmen“. Also die Frage: Wer ist diese Frau? Die Frage wird ja so häufig gestellt, dass der Programmheftleser sich nicht darüber wundern muss, wenn auch hier just die Frage „Wer ist Carmen“ gestellt wird.
Vor einigen Jahren war die Antwort für mich klar: Carmen ist eine Frau mit einer aufreizenden, leicht schlampigen Erotik. Damals war Leila Pfister die Frau in Sevilla, heute – sieben Jahre nach der Nürnberger Premiere der Inszenierung Laurent Laffargues – ist es Roswitha Christina Müller. Erotisch? Gewiss – aber schlampig? Bestimmt nicht. Roswitha Christina Müller hat, oberflächlich zugehört, ein gelind ähnliches, doch etwas helleres Timbre als Leila Pfister. Sie spielt Carmen eher als Grand Dame einer souveränen Freiheit denn als provokante Outsiderin, in ihrem Kostüm des letzten, des fatalen Akts geradezu „normal“. Das passt schon, denn Carmen ist – abgesehen davon, dass sie zunächst eine männliche und vermutlich auch weibliche Mythosprojektion ist – trotz Regisseur immer „nur“ die Darstellerin/Sängerin, die sie gerade „verkörpert“: mit allen möglichen Mitteln, nicht zuletzt den stimmlichen, und die sind bei Frau Müller nun einmal sehr nobel.
Dem Publikum hat’s, mit einer Einschränkung, übrigens sehr gefallen – denn das Publikum war diesmal extrem jung. Man hat ganze Kohorten von Schülern in die Vorstellung geschickt, die, während die Musik lief, wesentlich stiller waren als das mittelalte Freundinnenterzett in der 7. Reihe. Doch auch von ihm konnte der Rezensent was lernen. Kurzer Dialog: „Carmen ist ein Luder!“ „Aber die Männer sind doch a alle gleich: einfach strukturierte Wesen.“ So kann frau es natürlich auch betrachten, denn mit David Yim hatte man einen Mann auf die Bühne gestellt, der den verzweifelten Anbeter namens Don José als italienischem Heldentenor gab. Das heißt: manchmal zu laut und präpotent, doch angemessen desperat. Der Schluss der Oper ist, so betrachtet, unausweichlich.
Nur ist Carmen, diese Carmen, kein „Luder“, sondern nur zunächst eine Kokette, dann eine sehr ernsthafte Frau, die das Pech hat, auf einen labilen Typen zu treffen. Denn dass sie Escamillo ernsthaft lieben könne: diese Möglichkeit eröffnet nicht nur die Regie, indem sie die beiden vor dem Schlusskampf gleichsam apart vom großen Publikum (kollektive Rücken nach hinten gedreht) miteinander sprechen lässt. Denn Antonio Yang ist ein stimmlich und gestischer Escamillo von der gute Sorte: kein Aufschneider, sondern ein – wenn auch leicht ironischer – authentischer Anwärter auf Carmens Herz. Nur sollte er aufpassen, dass seine Stimme, die, beispielsweise, als Wotan so gut klang, sich nicht irgendwohin detoniert, wo sie nichts zu suchen hat – auch wenn das begeisterte Publikum sein „Toreador“ bejubelt. Genug der Beckmesserei.
Oder auch nicht, denn diesmal hat mich der Chor – nicht stimmlich, nur szenisch – leider enttäuscht. Lag’s an der Wiederaufnahme und der letzten Probe, die bereits im Januar stattfand? Der Rezensent ist nicht der einzige, dem die szenische Kraftlosigkeit des Chors auffiel. Schade, denn die Konstellation – der Ort am Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA – hätte, und dies nicht aufgrund der aktuellen Mauerpläne des sog. Amerikanischen Präsidenten, das Zeug für spannungsreiche Momente. Gestern Abend aber hatte man den Eindruck, dass die Geschichte vor allem deshalb schlecht funktioniert, weil die mexikanischen Wachen hier und die US-amerikanischen Offiziere dort nur Dienst nach Vorschrift schieben und die Sticheleien arg aufgesetzt wirken. So muss auch die Geschichte der Outsider-Frau zwischen den Grenzen latent unverständlich bleiben: in Lillas Pastias Biergarten, wo sich die Regie aufgrund der Musik ein bisschen Musical, daher streng genommen einen extremen Stilbruch erlaubt, wie beim wöchentlichen Treffen der von den politischen Systemen getrennten Männer und Frauen. Aber singen, bei Gott, tun sie, zusammen mit dem Nürnberger Jugendchor des Lehrergesangvereins, hervorragend (wie immer einstudiert von Tarmo Vaasks, die Kinder von Klaus Bimüller): und besonders der Frauenchor der Arbeiterinnen. Pure Schönheit…
Für die schwache Chorbewegung entschädigte indes der Auftritt einer einzigen (weiteren) Frau: Margarita Vilsone. Ihre Micaëla ist eine auch stimmschöne Frau, die seltsamerweise an eine große Titelrolle erinnert, die sie im Nürnberger Staatstheater spielte: Wie Leonore (in „Töt erst sein Weib!“) dringt sie, die Vertreterin des angeblich „schwachen“ Geschlechts, in die Gangsterbande ein, um ihren Geliebten herauszuholen. Wunderbar das Duett, noch wunderbar ihre Arie „Je dis que rien“. Rauschender Beifall, völlig zurecht. Warum nur, warum, fühlt Don José sich zu Carmen, nicht zu dieser mutigen Frau hingezogen, die für ihn durchs Feuer gehen würde? Warum nur wirkt der Gang vor dem Vorhang zum letzten Bild – Micaëla und Don José als Brautpaar – so traurig? Die Liebe liebt eben das Wandern, Bizets Carmen ist für diese Tatsache vielleicht nur eine symbolische Pointierung. Auffälligerweise ist ein zweiter Vorhangauftritt der Micaëla gewidmet: wenn einer der Grenzschmuggler (Drogen in harmlosen rosa Teddybären, was sonst?) sie mit der Knarre durch die Finsternis, hin zu Don José, geleitet.
Der Tod aber hat immer recht. Er tanzt vom ersten bis zum letzten Bild über die zuletzt, nach dem Chorabgang, in schönster Windeseile entleerten Bühne, auf der sich auch ein geheimnisvoll durchs Dunkel wabernder Stiermann und ein echter Hund tummeln; letzterer stört übrigens nicht übermäßig. An sich hat der Opernfreund nichts gegen Hunde: schon gar nicht in Bayreuth, wo Molly und Marke 2017 erstmals die Bühne betraten. Soviel zum beliebten Thema „Tiere in der Oper“. Dass die von der Staatsphilharmonie unter dem exzellenten Orchesterleiter Esteban Dominguez-Gonzalvo schön beschwingt gespielte Ouvertüre vom Publikum durch brutales Klatschen unterbrochen wurde, weil man die Generalpause nach dem Allegroteil für den Schluss des Stücks hielt, schmerzte natürlich. Aber woher sollen die jungen Leute und das mittelalte Frauenterzett es auch besser wissen? Die Hauptsache bleibt doch, dass sie in Scharen kamen und ihnen die Aufführung gefiel, weil die Kraft und das Genie der Musikdramatik George Bizets – und die Kunst einer Roswitha Christina Müller und einer Margarita Vilsone – über manch systembedingte Unzulänglichkeiten des Repertoirealltags triumphierten.
Frank Piontek, 26.4.2018
Fotos: © Jutta Missbach