Premiere: 23.3.2019, besuchte Vorstellung: 8.4.2019
Gibt es eigentlich immer noch Kritiker und Opernbesucher, die Puccini, besonders aber „Madama Butterfly“ für kitschig halten? Vermutlich, denn sonst wären nicht im hinteren Parkettbereich der Nürnberger Oper – zugegeben: an einem Montagabend – sichtbar viele Plätze freigeblieben. An der Produktion kann’s nicht liegen, obwohl sich, vielleicht, manch Butterfly-Freund von den Szenenbildern abgestoßen fühlte, die seit der Premiere der Neuinszenierung veröffentlicht wurden. Kein Grund zur Panik: Weder für „Opernfreunde“ noch für „Opernfeinde“. Dazu genügt es zunächst, eine dezidierte Meinung zu Puccinis Meisterwerk zu zitieren. Kürzlich erschien nämlich ein entzückendes Miniaturbüchlein mit dem Titel „In der Oper mit Donna Leon“. Frau Leon schreibt bekanntlich nicht nur Venedig-Krimis, sondern auch kundige Essays über die Gattung Oper, besonders über den (zurecht) geliebten Händel. Im Bändchen finden wir nun den hübschen kleinen Text „Drei Operntipps für Einsteiger“. Wir können da Folgendes lesen: „Puccinis ‚Madame Butterfly‘ ist der Coupe Dänemark der Oper: Etwa alle zehn Jahre einmal schlage ich mir mit diesem üppigen Melodram den Magen voll, einer wahren Kalorienbombe. (…) Die Ästhetin in mir bekommt zwar jedes Mal Gallenschmerzen, doch ich koste das Ganze immer bis zum letzten Löffel aus. Nach der Vorstellung schwöre ich jedes mal, nie wieder schwach zu werden. Doch ich kann einfach nicht widerstehen.“
Wer sich die Neuinszenierung von Tina Lanik anschaut, dürfte, wenn man die Aufführung nur optisch betrachtet, kaum auf den Gedanken kommen, es bei „Madama Butterfly“ mit einem „Coupe Dänemark der Oper“ zu tun zu haben. Nürnberg ist weder Verona noch Mailand, auch kein Fernsehstudio der frühen 70er Jahre (nichts gegen Mailand, Verona und den TV-Film mit der Freni und Domingo!). In Nürnberg steht mit der dramatisch höchst bewegten (und bewegenden) Emily Newton eine herbe, ganz und gar nicht folkloristische Cio-Cio-San auf der Bühne, die zusammen mit der Regisseurin eine Butterfly entdeckt hat, deren Probleme in einem Kulturkonflikt begründet liegen, in dem die japanischen Elemente zwar deutlich sichtbar sind, doch die Erinnerung an irgend einen Exotismus kaum aufkommen lassen. Im Gegenteil: Wenn sich die verheiratete Frau – die, das ist ihr Missverständnis, in Windeseile aus ihrer angestammten Kultur herausspringen will, als ob sie es angesichts der Wirklichkeit könnte – schon während des Liebesduetts (JA, LIEBE IDEOLOGIEKRITiKERINNEN: ES IST EINES) entkleidet, um ein schon darunter getragenes nüchtern-langweiliges West- und Alltagsoutfit sichtbar zu machen, wird klar, was gemeint ist: übertragbar auf alle Kontinente, auf denen es Sexsklavinnen und Sextouristen gibt. Was, im Sinne des Komponisten und seiner Librettisten, fremd ist, bleibt jedoch fremd. Interessanterweise ist es Suzuki, also die vokal und gestisch enorm beeindruckende Almerija Delic, die die eigentliche optische Exotik ins Spiel bringt. Weniger „Kammerzofe“ als Schutzgeist, mehr Repräsentanz einer weiblichen Priesterschaft als ängstliches Wesen, im Ganzen eine Begleiterin der Tragödienheldin, die, wie im griechischen Trauerspiel, nur zuschauen und kommentieren, nicht helfen kann. Wenn sie den Kuppler und Verleumder Goro (mit seinem auch symbolisch zu verstehenden Haustier namens Leguan haftet ihm, gespielt von Hans Kittelmann, tatsächlich etwas Krötenhaftes an) zu Boden schlägt, ahnen wir, welche tigerhaften Kräfte hinter dieser beeindruckenden Frau stecken. Und wenn Wonyong Kang als „Onkel Bonze“ die Verwandte verflucht, indem er wie ein Totengeist im theatralischen Schauerlicht steht und einen dämonischen Schatten wirft (man merkt die Absicht und ist nicht verstimmt), registriert man mit Vergnügen, dass Beides zusammen geht: die nüchterne Deutung eines fast abstrakt betrachteten „clash of cultures“ und die fantasievolle Nachschöpfung einer originalen, in einem mit von Stefan Hageneier entworfenen, obligatorischen Schiebewänden ausgestatteten Einheitsraum spielenden „Butterfly“.
Original? Man spielt in Nürnberg Puccinis letzte Fassung, also keine der ersten drei oder gar sechs, wenn man es sehr genau nimmt und die Zählung der einzelnen Versionen auf die Spitze treibt. Was Puccini in seiner schließlich durchgesetzten Schlussversion dem Konflikt an Schärfe und seinem traurigen „Helden“ Pinkerton an Arroganz nahm, ersetzte er bekanntlich durch ein wenig mehr Weichheit, auch durch die Arietta „Addio fiorito asil“. Nein, ein echter Opernfreund kann und will, nur weil die erste oder zweite Version „härter“, ja „realistischer“ ist (Oper ist nie realistisch), nicht auf so eine melodisch-harmonische Perle verzichten. Schließlich sorgt die Inszenierung dafür, dass die Aussage deutlich genug ist: Pinkerton tritt, wie man’s gewohnt ist, als Kolonialherr auf, er schaut sich, als distanzierter Zuschauer, zunächst die „Show“ an, die Freundinnen Butterflys gerinnen unter der Regie des schmierigen Kupplers zum Standbild – mann könnte sich ja auch noch eine andere der halbnackten, präsentierte Frauen ins Bett holen -, er flätzt sich, er macht, im wahrsten Sinn des Wortes, „auf dicke Hose“ – aber dann geschieht ein Wunder. Es ist das Wunder der Musik, dem sich die kluge Regisseurin nicht entgegenstellen wollte noch konnte. Denn Pinkerton wird umso lyrischer und zärtlicher, je westlich-normal-durchschnittlicher die gekaufte Frau aussieht. Ja, er glaubt in diesem längsten aller Liebsduette Puccinis wirklich, was er sagt: „Sì, per la vita.“ Wir sehen es, die Regie denunziert ihn nicht. Nur so wird verständlich, wieso wir ihm im letzten Akt den labilen Ex-Liebhaber abnehmen. Und nur so verstehen wir, wieso Miss B.F. Pinkerton nicht den stimmlich und optisch ansehnlichen Fürsten Yamadori (Denis Milo) heiratet.
Nein, mit „Kitsch“ hat das, selbst wenn wir’s rein musikalisch betrachten, nichts zu tun. Natürlich hören wir diese seltsamen, weil unbeabsichtigen Lehar-Anklänge (oder gibt es bei Lehar nicht eher Puccini-Zitate??), doch immer wieder vernehmen wir, dass Puccini ein eminenter Wagnerverehrer und -kenner war. Oft schimmert in fahlsten Farben die „Götterdämmerung“ hinein: Weltende, Abschiedsstimmung, und es stimmt ja: mit der „Kreuzigung“ der Frau (wie Raina Kabaivanska die Handlung der Oper einmal beschrieb) bewegen wir uns – was für eine einfache wie geniale Musikdramaturgie! – klanglich von der flirrendsten Leichtigkeit in die dunkelsten Regionen des Todes. Emily Newton spielt, begleitet von der eher mythisch und religiös aufgeladenen Suzuki der Almerija Delic, eine zutiefst menschliche und ergreifende Opferfigur, die auch deshalb so grausam scheitert, weil die Regie in ihr wesentlich mehr sieht als die traditionelle, weißgeschminkte und, zugegeben, ganz anders bewegende Femme fragile. Für diese Menschlichkeit sorgt freilich auch die fundamentale Mutter-Kind-Beziehung; schlichtweg entzückend ist die kleine Anastasia Heinz, die das Frauenpaar durch den letzten langen Todesakt begleitet. Und wenn der exzellente Sangmin Lee als Sharpless in der unvergleichlich beklemmenden Briefszene bei jedem Opernbesucher und jeder noch nicht ganz verhärteten Opernbesucherin mit dafür sorgt, dass die Augen feucht werden, bevor Cio-Cio-Sans tragische Heiterkeit und das Blumenduett für neue Erschütterungen sorgen, hat die Oper ihr Ziel erreicht. Nicht nur der erfahrene Opernfreund und die -freundin haben übrigens geweint. Selbst bei einigen Vertreterinnen der Generation Handy konnte man nach dem Ende des 1. Akts Tränenspuren glitzern sehen. Gut so – denn so wird es, hoffentlich, auch mit der Opernwelt und dem Publikum der nächsten Gegenwart weitergehen. Muss ja nicht jede Opernbesucherin so offensiv kühlherzig und versnobt auftreten wie die von ihrer Klasse zum coolen Weibchen verschandelte Kate, die von Katrin Heles nahe an eine Karikatur geführt wird. Aber solche „Tussis“ mag es geben: Das Kind mit Gewalt von der gerade gestorbenen Mutter fortzuziehen ist nicht schön, aber theatralisch wirksam – und passend zur unaufgelösten Dissonanz des Schlussakkords.
Bleibt die männliche Hauptrolle: Tadeusz Szlenkler. Für ihn gilt das Gleiche wie für die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Björn Huestege: Weniger wäre mehr. Er müsste gar nicht so viel Dynamik geben, um sein Ziel zu erreichen. Wieso vertraut er nicht seinem schönen, auf den Lagrimoso-Ton eingestimmten Tenor? Wieso muss er ins Publikum singen, als säßen dort unten lauter Schwerhörige? Weil das Orchester an vielen Stellen viel zu laut spielt? Dass es Puccinis subtile Farbmischungen so gut kann wie die dramatischen Entwicklungen und Eruptionen, dass sich der Zuhörer innerlich zurücklehnen kann, wenn die Terzen glänzen, bevor die Schlagzeuger und das tiefe Blech für die nächsten Schocks sorge: Wir wüssten es auch dann, wenn es 10 bis 20 Prozent weniger an Lautstärke gäbe. Ich bin sicher, dass sich auch der wie immer formidable Chor (unter seinem Leiter Tarmo Vaask) darüber freuen würde.
Ps.: Der Opernfreund empfiehlt, soweit es die Verfilmung der Oper betrifft, Frédéric Mitterands kongeniale, als DVD leider vergriffene Umsetzung aus dem Jahr 1995 mit einer anrührenden Ying Huang als aufgespießte Schmetterlingsfrau: https://www.youtube.com/watch?v=V7SlRuZln0s
Frank Piontek, 9.4.2019
Fotos: © Ludwig Olah
(Die Fotos zeigen nicht Emily Newton, sondern Barno Ismatullaeva als Cio-Cio-San).