„Ich hasse die Oper“. So steht‘s geschrieben auf einem der Pappschilder, die die Schauspieler und Tänzer (natürlich nicht die Sänger) nach oben halten, aber Jan Philipp Gloger und Thomas Köck hassen natürlich nicht die Oper. Im Gegenteil: Sie lieben sie so sehr, dass sie sie zu einem zentralen Teil eines Theaterstücks gemacht haben, das im „Spartengarten“ (das geistreiche Wort stammt von einem Bayreuther Theatermann) herangewachsen ist, um seit Februar 2023 die Nürnberger Zuschauer und -hörer in ihrem Schauspielhaus zu erfreuen.
Man sieht den Spruch, wenn eine Arie aus „Le nozze di Figaro“ ertönt, also einer Oper, die Gloger erst letzten Sommer in einer schönen Inszenierung in Zürich auf die Bühne gebracht hat. „La vendetta“, die Arie des Dottore Bartolo, ist ja ein wahres Prachtstück aus der Kammer der kultivierten Rache-Fantasien. „vendetta, vendetta“ hat es mit einer großen Auswahl aus klassischen und weniger (oder doch?) klassischen Rache-Szenen zu tun, die vor und auf den Stufen eines antiken Amphitheaters, meist vor dunkel dräuenden Wolkenbergen, von Schauspielern, Tänzern, Sängern und Musikern des Staatstheaters Nürnberg präsentiert – und diskutiert werden. Dramaturgische Grundlage des Konstrukts aus Hirn und Kunst, Bewegung und Wort, (Tot-)Schlag und Reflexion ist die Frage nach der Ursache dessen, was wir gemeinhin als „Rache“ bezeichnen. So mäandert der pausenlose, zwei Stunden kurze Abend zwischen philosophischen Betrachtungen verschiedener Tiefe und Erinnerungen an die Wirklichkeit der Kunst hin und her. Er beginnt fast buchstäblich bei Adam und Eva und endet fast bei Medea. Er bietet die Mordgeschichte von Kain und Abel als Tanztheater und den Auftritt der Königin der Nacht im Reenactment einer historischen Inszenierungsform auf. Er erzählt uns eine zentrale Szene aus „Lulu“ in den Versionen von Wedekind und von Berg, und er lässt uns hier an einem irrwitzig komischen Nachbarschaftsstreit, dort, im selben Raum – der Vorbühne – an der herzzerreißenden, einst von John Cranko entworfenen vergeblichen Begegnung von Onegin und Tatjana teilhaben. Oscar Alonso und Karen Mesquita haben dies, wie den Kampf zwischen Kain und Abel, neu choreografiert und getanzt, sie sind Part eines Ensembles, das in Stimme und Bewegung, in Diskurs, Gesang und Rezitation eng zusammenhält, ohne dass die Bruchstellen allzu fest, also allzu dogmatisch verleimt wären. In der Freiheit liegt schließlich auch die Kraft, sich von Rachefantasien zu befreien, die man erst einmal durchdiskutiert und -spielt haben muss, um sich der Gewalt dessen bewusst zu werden, was noch im tiefsten Inneren eines humanistisch gebildeten Staatsbürgers schmoren mag.
Wenn Justus Pfankuch Kleists fürchterliche wie fürchterlich ergreifende Geschichte vom Michael Kohlhaas erzählt und Andromahi Raptis gleichzeitig über leisen, dissonanten Streicherklängen stark verlangsamte Fetzen aus ihrer Rache-Arie darunter legt, ahnen wir, dass die in die schönste Form aufgelöste Opernarie der psychisch zerstörten Mutter und der schreckliche Rache-Akt des Betrogenen mehr miteinander zu tun haben, als es einem Opern-Gourmet vielleicht lieb sein könnte. Wenn Tjark Bernau in dem auf ihn, den Mann, umgeänderten Gespräch der Klytämnestra mit der Tochter Elektra in einem griechischen Restaurant sitzt und sich dort, wiederum gleichzeitig, die typischsten und witzigsten Dialoge abspulen („Bitte die Nr. 14b“. „Das Souvlaki“. „Ja, aber ohne Fleisch“), bevor er, der Mörder, wiederum in Kill-Bill-Manier gemordet wird (Andromahi Raptis steht auch ein gelber Trainingsanzug, nicht weniger eine Lucretia-Toga gut) – dann kommen Kunst und Komik, Traurigkeit und Terror, launige Unterhaltung und Nachdenklichkeit brillant zusammen. Rigoletto und Shylock ergänzen das Personal, alles ist Zitat – und, wenn‘s erklingt, Theater- und Opern, aber auch Wirklichkeitsrealität. Kein Wunder, denn mit Wonyong Kang steht ein Bass auf der Bühne, der die Rachearie aus Verdis Oper so gut macht wie die Arie des Gustavo, „Sol la brama di vendetta“, aus Händels „Faramondo“. „Nur die Lust auf Rache kann diesem Herzen Frieden geben! Empörte Liebe eilt mir zu und beleidigte Liebe treibt mich an“. Die englischsprachigen Übertitel übersetzen das etwas freier, damit‘s besser auf den Sturm auf das Capitol und Donald Trumps Rachegelüste passt, aber auch so wird klar, dass sich „Mythos“ – ein Begriff, der schon zu Beginn des Abends heftig diskutiert wird – und Moderne im Zeichen der offensichtlich zeitlosen Rache gut vertragen; die Szene macht das durch die harmonische Koexistenz einer fantastischen und einer gegenwärtigen Figur theatralisch wirksam klar.
Mit diesem furiosen Finale könnte das Projekt ausklingen, dem Kostia Rapoport am Tatseninstrument als musikalischer Leiter des Ensembles aus Streichquartett, tiefen Bläsern und großer Trommel vorsteht. Der Beifall ist auch danach, aber es muss noch die glühende Nüchternheit folgen, die uns eine Medea-Szene und ein innerer Monolog auf der schwarzen, ins Dunkel getauchten Vorbühne bescheren. Elina Schkolnik, die einen autobiographischen Text über alte Nazis, unvergessene Verbrechen und unverhüllte Racheträume beigesteuert hat, entlässt uns zusammen mit Tjark Bernau an die Luft, doch vorher haben noch einige Mitglieder des Staatstheaterchors ihren virtuellen Auftritt. Der Blick in ihren Probensaal sieht sie als chorisch sprechendes Kollektiv, dann als Absinger eines pietistischen Chorals, der so wie sie selbst im Grau verschwimmt.
Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Gewiss, aber die Provokation zum eigenen Nachsinnen über ein derart schwieriges, moralisch besetztes und bis auf Weiteres virulentes Thema ist so kurzweilig, vielfältig und ästhetisch gelungen, dass man‘s wirklich nicht bedauern muss. Stärkster Beifall also für ein Herz und Hirn öffnendes Unternehmen.
Frank Piontek, 30. März 2023
Thomas Köck
vendetta, vendetta
Staatstheater Nürnberg
Premiere am 10. Februar 2023
Besuchte Vorstellung: 28. März 2023
Inszenierung: Jan Philipp Gloger
Musikalische Leitung: Kostia Rapoport
Sänger, Tänzer und Schauspieler des Staatstheaters Nürnberg