Wiesbaden: „Carmen“, Georges Bizet

Am 18. Juni fand im Hessischen Staatstheater Wiesbaden im Rahmen einer Wiederaufnahme die Oper „Carmen“ von Georges Bizet statt. Unter der musikalischen Leitung von Yoel Gamzou und der Inszenierung von Uwe-Eric Laufenberg erklang eine ungekürzte Fassung mit Dialogen. Obwohl die Idee grundsätzlich gut war, fehlte es leider an den sprachlichen Fähigkeiten der Darstellerinnen und Darsteller, die französische Dialoge akustisch tragfähig umzusetzen. Die gesprochenen Passagen waren im weiten Bühnenraum teilweise kaum zu hören und die Qualität der französischen Aussprache belastete die Hörtoleranz der Zuschauer.

Die Hauptdarstellerin Silvia Hauer, in der Rolle der faszinierenden Carmen, widmete sich hauptsächlich ihrer stimmlichen Darbietung und strebte nach einem korrekten Gesang. Trotz ihres kultivierten Mezzosoprans, der in den höheren Tonlagen nicht immer vollkommen souverän wirkte, vermochte sie die Erwartungen nicht gänzlich zu erfüllen. Enttäuschender weise fehlte es ihrer sprachlichen Ausführung an Kreativität, Akzenten und Raffinesse, während ihr ungünstiges Timing wertvolle Gelegenheiten zur Steigerung der Wirkung verschenkte. In ihrer darstellerischen Präsenz als zentrale Hauptfigur blieb einiges zu wünschen übrig. Sie verkörperte eine ziemlich gewöhnliche, gelassene Frau, die routiniert durchs Leben geht, anstatt eine verführerische Femme fatale zu sein, der alle verfallen, oder eine Persönlichkeit von Stärke und Dominanz darzustellen. Sowohl in Bezug auf ihr Temperament als auch ihre Leidenschaft fehlte es an der geballten, wechselhaften Intensität, die von einer solchen Figur erwartet wird. Dadurch entbehrte die Inszenierung des zentralen Mittelpunkts auf der Bühne, was sich auch in der Reaktion des Publikums zeigte, das beispielsweise die lediglich nur korrekt gesungene Seguidilla mit betretenem Schweigen quittierte.

(c) Karl und Monika Forster

Aaron Cawley, der den Don José verkörperte, präsentierte einen bemerkenswert gewachsenen, jedoch weniger flexiblen Tenor, der hauptsächlich zwischen den lauten Tönen von Forte und Fortissimo wechselte. Dies mag sicherlich Freunde lauter Tenorgesänge entzückt haben, jedoch harmonierte dieser Stil nicht optimal mit den Anforderungen der Rolle des Don José, der insbesondere im Duett mit Micaëla auch das Mezza Voce und Pianissimo beherrschen müsste. Dies war eine Fähigkeit, die Cawley nicht vorweisen konnte. Noch schwerwiegender war jedoch seine nach wie vor desolate Sprachbehandlung. Seine Aussprache war fast frei von Konsonanten und kaum als adäquates Französisch erkennbar. Es war schmerzhaft, das Liebesbekenntnis an Carmen als „Amen e aime“ zu hören. Cawley beschnitt sich durch diese Schwäche selbst in vielerlei Hinsicht, da sein Vortrag monoton wirkte und nur begrenzt Emotionen vermitteln konnte. Mehr Sorgfalt mit der Sprache und in der musikalischen Differenzierung würden seiner beeindruckenden Stimme wesentlich mehr Wirkung geben.

Heather Engebretson hingegen hinterließ als Micaëla einen tiefen Eindruck mit ihrem lyrischen und einfühlsamen Gesang. Ihre klare und wunderschöne Stimme verlieh der Rolle eine zarte und zugleich kraftvolle Präsenz. Mit fein abgestufter Ausdruckskraft vermittelte sie sensibel die Empfindungen ihrer Figur und demonstrierte bemerkenswerte Kontrolle über ihre stimmlichen Fähigkeiten. Die übertrieben zu spielende Unsicherheit resultierte hingegen aus der Regiearbeit und trug so gar nicht zum besseren Verständnis ihrer Rolle bei, was ihr aber nicht anzulasten ist.

Jordan Shanahan verkörperte den Escamillo mit einer bemerkenswert kompakten stimmlichen Qualität und einer außerordentlich souveränen Bühnenpräsenz. Sein Auftritt war geprägt von Charisma, und er begeisterte das Publikum mit seinem vollen, klangvollen Bariton. Shanahan meisterte die anspruchsvolle Rolle des Escamillo mühelos und hinterließ einen kraftvollen Eindruck.

Auch die übrigen Mitglieder des Ensembles verliehen ihren Rollen eine klare Gestalt und demonstrierten Charakterstärke. Ihre Darbietungen trugen zum Gesamtklangbild der Oper bei und ergänzten die Hauptrollen auf eindrucksvolle Weise. Insbesondere sei Mikhail Biryukovs herausragende Leistung als engagierter Zuniga erwähnt, der dem Don José in seiner darstellerischen Präsenz und sprachlichen Prägnanz deutlich den Rang ablief. Die Chortableaus, die von den beeindruckend einstudierten Chören, der Jugendkantorei der Ev. Singakademie Wiesbaden und dem Chor- und Extrachor des Hessischen Staatstheaters, präsentiert wurden, waren eindrucksvoll. Ihr stimmlicher Ausdruck und ihre kraftvolle Präsenz verliehen den Chorszenen eine packende Wirkung.

(c) Karl und Monika Forster

Die Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg konzentrierte sich vorrangig auf das Zusammenspiel der Protagonisten und präsentierte eher ein intimes Kammerstück als ein opulentes Bühnenspektakel. Ein charakteristisches Stilmittel seiner Inszenierungen sind Videosequenzen, die auch hier z.B. mit einem blutigen Stierkampfvideo beim Vorspiel verwendet wurden. Obwohl dies vielleicht nicht jedermanns Geschmack entsprach, trug es dennoch zur Gesamtwirkung der Inszenierung bei. Am Ende wurde auch der Grund für diesen verstörenden Beginn deutlich: Carmen wurde im Finale der Oper als erfolglose Lanzenreiterin dargestellt, während Don José als körpersprachlicher Stier agierte. Laufenberg erwähnt im Programmheft, wie schwer die „Carmen“, seiner Auffassung nach, zu inszenieren sei, was insofern verwunderlich ist, da große Könner der Szene in der Vergangenheit sehr gelungene Beispiele szenischer Interpretation erarbeiteten. Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang an den großen und unersetzlichen Jean-Pierre Ponnelle erinnert, dessen meisterhafte Inszenierung vor langer Zeit bei den Maifestspielen zu bewundern war. In jüngerer Zeit zeigten Sir David McVicar oder Francesca Zambello gelungene szenische Interpretationsansätze. In Wiesbaden erzählte Laufenberg solide die bekannte Geschichte, verlor sich jedoch in einigen überflüssigen Details, wie der übertriebenen Unsicherheit der zappeligen Micaëla.

Was diesen Opernabend lohnenswert machte, war die erneute Begegnung mit dem Gastdirigenten Yoel Gamzou. Kürzlich hatte er eine Neuproduktion von „Carmen“ an der Hamburgischen Staatsoper verantwortet und mit seinem unkonventionellen Dirigat für kontroverse Reaktionen gesorgt, da es sich nicht dem gewöhnlichen Einheitsbrei anpasste. Gamzou setzte sein „Carmen“ Dirigat mutig gegen den Strom. Dies zeigte sich in extremen Tempounterschieden, sehr eigenwilligen Phrasierungen und Dynamiken. Diese Herangehensweise polarisiert und gefällt nicht jedem. Doch dieses Dirigat in Wiesbaden war ein Ereignis! An diesem Abend spielte sich Bizets „Carmen“ vor allem im Orchestergraben ab. Es dürfte derzeit keine andere Dirigenteninterpretation dieser Oper geben, die so fesselnd, kreativ und unverwechselbar ist. Ein ungemein spannendes und außergewöhnliches Erlebnis. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden und die Sängerinnen und Sänger wurden intensiv gefordert und mussten äußerst aufmerksam miteinander interagieren. Insgesamt gelang ihnen dies auf beeindruckende Weise, und das Publikum konnte nur staunen über die außergewöhnliche Leistung, vor allem des Orchesters. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden spielte hoch konzentriert, klangschön und mit der notwendigen Verve. Perfekt traf es den Tonfall dieser Opéra-comique. Chapeau!

Dirk Schauß, 19. Juni 2023


Carmen

Georges Bizet

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Aufführung am 18. Juni 2023 (Premiere am 14. September 2019)

Regie: Uwe Eric Laufenberg

Dirigat: Yoel Gamzou

Hessische Staatsorchester Wiesbaden