Besuchte Aufführung: 23. 5. 2013 (Premiere: 9. 5. 2013)
Inzest und Erinnerung
Einen gewaltigen Eindruck hinterließ am Theater Pforzheim die Neuproduktion von Philipp Glass’ „Der Fall des Hauses Usher“. Damit hat dieses kleine, aber hochkarätige Opernhaus bewiesen, dass es auch für modernes Musiktheater ein gutes Händchen hat. Der Oper zugrunde liegt Edgar Allan Poes gleichnamige, im Jahr 1839 erstmals erschienene Erzählung, die einen der eindrucksvollsten Beiträge zur Schauerromantik dieser Zeit darstellt und das wohl berühmteste Werk des Dichters ist. Als Spiegelbild sowohl gesellschaftlicher als auch geschichtlicher Umbrüche problematisierte sie die Orientierungslosigkeit der Menschen dieser Ära. Der phantastische, gruselige und zudem ausgesprochen melancholische Stoff war von Anfang an wie geschaffen für eine Oper. Dennoch wurde er von den Komponisten lange links liegen gelassen, bis sich schließlich Philipp Glass in den 1980er Jahren entschloss, das Sujet zu vertonen. Dabei ist ihm ein großer Wurf gelungen. Bereits bei seiner Uraufführung am 18. 5. 1988 im American Repertory Theater in Cambridge fand das Werk bei Publikum und Presse enormen Anklang. Im Folgenden war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. In den letzten Jahren war es u. a. am Gärtnerplatztheater München (der Opernfreund berichtete), in Cottbus und in Bremerhaven zu erleben. Und nun auch am Pforzheimer Theater, wo man Glass’ Oper ebenfalls im hohen Maße gerecht wurde.
Der Komposition zugrunde liegt die sog. Minimal Music. Glass reduziert das musikalische Material auf allerkürzeste Motive, die manchmal aus nur zwei oder drei Noten bestehen und unterzieht diese fortlaufend leichten Variationen. Dieses Verfahren hat zur Folge, dass die Musik an manchen Stellen regelrecht stillzustehen scheint. Glass ist es trefflich gelungen, den schaurigen Grundton von Poes Horrorerzählung in eine inhaltsvolle, spannende Musik zu transferieren, die melodischer anmutet als viele seiner anderen Opern. Nachhaltig veranlasst sie den Zuhörer, in sich zu gehen und zu einer Art Selbstreflektion als Ausfluss der Minimierung der klanglichen Eindrücke zu gelangen. Demgemäß wird sie von GMD Markus Huber und der konzentriert aufspielenden Badischen Philharmonie Pforzheim auch recht ätherisch und mit kammermusikalischer Leichtigkeit dargeboten, wobei der emotionalen Komponente großes Gewicht zukommt. Es entsteht der Eindruck eines ständigen Kreisens der Musik, einer Sogwirkung der Klänge, deren unheimliches Melos ein treffliches Pendant zum Geschehen auf der Bühne bildet.
Glass’ Oper lehnt sich stark an Poes Erzählung an und entwickelt diese in gewisser Hinsicht sogar weiter. Der junge William reist, nachdem er von seinem Jugendfreund Roderick Usher eine Einladung erhalten hat, zu dessen Haus, in dem schon alle vorangegangenen Generationen des alten Adelsgeschlechts Usher residierten. Eine gespenstische Umgebung, ein riesiger Riss in dem maroden Gemäuer und ein dämonische Gestalten beherbergender See erwarten ihn. Roderick bittet seinen Freund, einige Zeit bei ihm zu bleiben, um ihm seine Krankheit erträglicher zu machen. Bei diesem Besuch trifft William auch Rodericks Zwillingsschwester Madeline wieder, die er ebenfalls aus Kinderzeiten kennt, die aber bald darauf stirbt und im Keller des Hauses begraben wird. Im Folgenden nimmt das Geschehen mysteriöse Züge an. In einer Sturmnacht liest William Roderick eine Geschichte vor, die jedoch sein Grauen vor den unheimlichen Geräuschen im Haus nicht verringert, sondern eher noch verstärkt. Auf dem Höhepunkt der Schrecknisse gesteht der Hausherr seinem entsetzten Freund, Madeline lebendig begraben zu haben. Plötzlich steht diese blutüberströmt in der Tür und stürzt sich auf ihren Bruder, der den Schock nicht überlebt. Panisch flüchtet William und sieht nur noch, wie sich der Riss im Haus kontinuierlich vergrößert und schließlich alles in sich zusammenbricht.
Bettina Lell ist in dem Bühnenbild von Jeannine Cleemen und Moritz Weißkopf, von denen auch die gefälligen Kostüme stammen, eine atmosphärisch dichte, stringente Inszenierung gelungen. Den verborgenen Geheimnissen der Geschwister Usher entspricht es, dass der ganze Raum von zahlreichen überdimensionalen Tüchern dominiert wird, die das Interieur des heruntergekommen Familiensitzes den Blicken entziehen. Bei Frau Lell gerät das Ganze zu einem Kammerspiel Strindberg’scher Prägung. Nicht die äußere, sondern die innere Handlung interessiert die Regisseurin. In einfühlsamer Weise bringt sie die Seelenschichten der Protagonisten an die Oberfläche. Dabei geht es ihr in erster Linie darum, das inzestuöse Verhältnis von Roderick und Madeline, in dem der Wahnsinn der beiden begründet liegt, aufzuzeigen. Dieser wird von Frau Lell als Folge der sich über viele Generationen erstreckenden Inzucht unter den Familienmitgliedern entlarvt. Wahnsinn und Schizophrenie haben dazu geführt, dass Madeline die Sprache verloren hat und nur noch in A-Vokalisen artikulieren kann. Realität und Wahn und die gemeinsame Erinnerung an die unbeschwerten Jugendzeiten, die durch zwei den jungen Roderick und Madeline gleichenden Kindern symbolisiert wird, verschmelzen zunehmend miteinander. Gegenwart und Vergangenheit verdichten sich in der Psyche der Beteiligten zu einem beeindruckenden Geflecht, in dem Schuld und Irrsinn eine zentrale Rolle spielen und das letztlich in einer bedrückenden Hoffnungslosigkeit mündet. Das Ganze nimmt allmählich einen surrealen Charakter an. Insbesondere die zunehmend nur noch in Form von schemenhaften Umrissen hinter transparenten Vorhängen sichtbar werdende Madeline scheint mehr Vision als reale Person zu sein. Die vergnügten Tänze ihrer Kindheit mutieren zu einem Tanz in geistige Umnachtung. Auch die Sexspielchen der Geschwister unter einem riesigen Bettlaken, an denen auch mal der Freund partizipieren darf, scheinen mehr der Seele als der Wirklichkeit zu entfließen. Hier vollführt Frau Lell gekonnt eine Gratwanderung zwischen den verschiedenen Welten. Und genau das ist es, was den großen Reiz ihrer gelungenen Inszenierung ausmacht.
Gesungen wurde in der nicht immer überzeugenden deutschen Übertragung von Saskia M. Wesnigk. Von den Sängern gebührte die Krone dem jungen Aykan Aydin, der mit hellem, tenoral anmutendem und dabei bestens focussiertem Bariton italienischer Schulung einen ausgezeichneten William sang. Gut gefiel auch die sich immer weiter fortentwickelnde Franziska Tiedtke, die für die Madeline einen gut sitzenden, beweglichen und höhensicheren Sopran mitbrachte. Dagegen fiel Markus Francke mit seinem flachen, der nötigen Körperstüzte gänzlich entbehrenden Tenor in der Partie des Roderick Usher ab. Sehr dünn klang auch der Arzt von Benjamin-Edouard Savoie. Ihm überlegen war der tadellos singende Diener von Axel Humbert.
Ludwig Steinbach, 24. 5. 2013
Die Bilder stammen von Moritz Weißkopf und Doreen Röder
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