Graz, Helmut-List-Halle 24. Juli 2016
Die Routen der Sklaverei – Großartiges Musizieren aus erschütterndem Anlass
Schon immer ist es ihm um nicht weniger als das Ganze gegangen: Jordi Savall, der Philosoph und Magier mit der Gambe, zeichnet in seinen großen musikalischen Panoramen die Weltgeschichte in Klängen nach. Und für sein neuestes Projekt spannt der den Bogen besonders weit. Er reist von Spanien nach Mali ins Herz des afrikanischen Kontinents und von dort in die amerikanischen Kolonien. Mit seinem Ensemble Hespèrion XXI und Gästen folgt er der Route der Sklavenhändler, die mit den Menschen auch Kulturen über die Ozeane verschifften. Und er wäre nicht der große Humanist der Alten Musik, wenn er nicht eine grundsätzlich positive Botschaft im Gepäck hätte: In allem Leid der Sklaverei hat sich immer auch die Hoffnung auf Freiheit erhalten, nicht zuletzt durch die Kunst …
So wurde die Schlussveranstaltung der Styriarte 2016 angekündigt – und es wurde in der ausverkauften Helmut-List-Halle mit 1200 Plätzen ein umjubeltes, farbiges Panorama, das die Styriarte 2016 effektvoll abschloss. Ich konnte aus dem mit rund 50 Veranstaltungen in einem Monat prall gefüllten Programm der styriarte über jene Veranstaltungen berichten, die durch ihr musikdramatisches Gewicht speziell für den Leserkreis des Opernfreundes interessant waren. Und Dramatik war auch an diesem letzten Abend wahrhaft zu erleben!
Um seine beiden Stammensembles herum – die vier Sänger von La capella Reial de Catalunya und die 11 Instrumentalisten von Hespèrion XXI – versammelte Jordi Savall weitere 15 Musikerinnen und Musiker aus Mali, Madagaskar, Marokko, Mexiko, Kolumbien, und Brasilien. Das Programm steht unter der Patronanz der UNESCO und wurde seit 2015 schon wiederholt aufgeführt – in der Schweiz, in Frankreich, Deutschland, Spanien. Eine Reihe von Konzerten in Südamerika folgt im September.
Soweit ich das überblicken kann, wurde in Graz allerdings erstmals eine Sprecherin in das Programm eingebunden, die zwischen den einzelnen Stücken Texte von Aristoteles, aus alten Chroniken, aus Königsbriefen, aus Predigten, aus grauenvollen Strafberichten (die offenbar im Publikum zwei Damen so bewegten, dass sie den Saal verließen!) und von Montesqieu bis zu Martin Luther King las. Die in Deutschland geborene farbige Schauspielerin Denise M’Baye – aus deutschen Fernsehserien bekannt – trug diese Texte mit merklicher innerer Betroffenheit, wenn auch nicht durchwegs sehr wortdeutlich vor.
Zu den Musikstücken schreibt Jordi Savall im Programmheft :
In unserem Konzert wird die lebendige Musik als Erbin alter Traditionen der Versklavten, die tiefe Spuren im Gedächtnis der Völker von der Westküste Afrikas über Brasilien, Mexico bis hin zu den karibischen Inseln hinterlassen hat, in einen Dialog mit europäischen Musikformen eintreten, deren Inspiration in ebendiesen Lieder und Tänzen der Sklaven und Ureinwohner wurzelt. So wird das afrikanische Erbe mit dem amerikanischen verbunden – mittels musikalischer Formen aus der Renaissance und dem Barock.
Und das war wirklich faszinierend, wie diese Verbindung von ganz Unterschiedlichem optisch durch die pittoresken Gewandungen und musikalisch durch das Urmusikantentum aller Ausführenden erlebbar wurde. Eigentlich müsste man ja jeden einzelne Musiker besprechen und würdigen – alle waren großartig. Aber da würde wohl die Lesbarkeit des Beitrags allzu sehr leiden!
Und so seien vor allem jene drei hervorgehoben, die gemeinsam mit Jordi Savall für die Auswahl der Stücke verantwortlich waren und diese Stücke einerseits mit eindrucksvoller Individualität interpretierten und sich andererseits ideal in das Gesamte einfügten. Es waren dies aus Mali der Sänger Kassé Mady Diabaté in seinem wunderbaren blauen Gewand, der mexikanische Marimba-Spieler Leopoldo Novoa Mantallana und für Brasilien die Sängerin Maria Juliana Linhares . Für Interessierte lohnt es sich in jedem einzelne Falle, den angebotenen links nachzugehen, aber auch in die deutschen Übersetzungen der Lieder hineinzuschauen, die nicht nur während des Konzerts projiziert wurden, sondern auch im Netz hier eingesehen werden können.
Jordi Savall war nicht nur für die Gesamtkonzeption des Programms verantwortlich, sondern natürlich auch für die musikalische Gesamtleitung verantwortlich. Er saß bescheiden am Bühnenrand mit seiner Diskantgambe und hielt den ganzen Abend mit seiner Autorität und wenigen sparsamen Gesten stets sicher zusammen. Zu Beginn der Veranstaltung musste er kleine Programmumstellungen ankündigen, weil zwei Sängerinnen wegen unvorhergesehener Flugumbuchungen verspätet eintrafen – sie fügten sich dann im 2.Teil des Programms nahtlos in das Ensemble.
Besonders berührend dann die Schlussworte von Jordi Savall – unsere heutige Zeit habe nichts aus den vergangenen Zeiten gelernt, die dieses Programm musikalisch gezeigt hatte. Auch heute noch gibt es laut internationalem Sklaverei-Index über 45 Millionen Menschen in Sklaverei. Savall zählte mit ruhiger Stimme auf, in welchen Ländern es die höchsten Zahlen gibt – erschüttert musste das Publikum dies zur Kenntnis nehmen. Und dennoch: der unerschütterliche Humanismus des an die Kraft der Musik glaubenden Jordi Savall vermittelte Optimismus – am Ende des mehr als dreistündigen(!) Abends jubelte das Publikum und feierte alle Ausführenden!
Hermann Becke, 24. 7. 2016
Aufführungsfotos: styriarte, © Werner Kmetitsch
Hinweise:
– In diesem knapp 5 Minuten langen Video gewinnt man einen sehr guten Eindruck des Abends
– Das Grazer Zeitungsinterview mit Jordi Savall ist unbedingt lesenswert
– Daten der nächsten Styriarte: 23. Juni bis 23. Juli 2017 – der Opernfreund wird wieder berichten!