Giuseppe Verdis große Totenmesse stellt an alle Mitwirkenden höchste Ansprüche und meiner Meinung nach die allerhöchsten an den Dirigenten. Es gibt verschiedene gestandene Vertreter dieses Metiers, die sich an dieses (im besten Sinne) monströse Werk noch nicht herangewagt haben. Als sich Michele Mariotti nach getaner Arbeit dem jubelnden Publikum zuwandte, drückten seine Züge immer noch die Erschütterung über das durch sein Dirigat Erlebte und Empfundene aus. Nur langsam löste sich dieser Zustand in Befriedigung über das Erreichte.
Mariotti hatte das Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI (also das italienische Radiosymphonieorchester) zu Höchstleistungen angespornt und das ideale Gleichgewicht zwischen der Dramatik des als „Totenoper“ geschmähten Werks und dessen sakralem Gehalt gefunden.
Auf Augenhöhe damit befand sich die Leistung des Chors des Hauses unter der Leitung des nie zuviel gelobten Martino Faggiani. Flüstern, Aufschrei, Textdeutlichkeit – alles war ein reiner Genuss. Auch von den Solisten ist nur Gutes zu berichten. Marina Rebeka verlieh dem Sopranpart mit leuchtender Stimme großes Gewicht und überwand mit bewunderungswürdiger vokaler Intelligenz die Klippen des so dramatischen, tief gesetzten „Libera me“. Wunderbar
erklang der Mezzo von Varduhi Abrahamyan, die nicht nur mit vollen, satten Tönen gefiel, sondern auch mit merkbarer Kenntnis des sakralen Stils. Der Tenorpart wurde von Stefan Pop nicht nur technisch überaus sicher bewältigt (gut gestützt „Ingemisco“ und „Hostias“), sondern auch mit großer, fast opernhafter Anteilnahme (was diesfalls kein Negativum ist). Vielleicht künstlerisch nicht ganz auf der Höhe seiner Kollegen, aber mit solider Leistung Riccardo
Zanellato mit dem Basspart.
Nach einem (beim italienischen Publikum eher seltenen) Augenblick der Stille entlud sich die eben erlebte Spannung in donnernden Applaus.
Viel Negatives las man aus der Feder von Berufskritikern über die neue Produktion von Verdis Oper, der vorgeworfen wurde, nicht „modern“ genug zu sein. Nun ist allerdings bekannt, dass der als Bühnenbildner ausgebildete Yannis Kokkos wie einige andere seiner Kollegen auch für Regie und Kostüme zu zeichnen pflegt. Das zeigt sich in einer nicht immer geschickten Bewegung der Massen und vor allem auch darin, dass die Solisten je nach Temperament und Begabung szenisch mehr oder weniger überzeugen. Zur Kategorie der gestandenen Darsteller zählten diesmal die Interpreten des Padre Guardiano, des Melitone und der Preziosilla, im Mittelfeld routinierter Gestik befand sich Alvaro, und Leonora sowie Don Carlo hätten eines echten Regisseurs bedurft. Dennoch ist die Produktion nicht abzulehnen, denn Kokkos schuf schmucklose, essentielle Bilder, die der jeweiligen Szene angepasst waren und etwa mit Hilfe eines quer über die Bühne reichenden Kreuzes den Schauplatz ebenso vertraten wie dessen Atmosphäre. Ausgezeichnet war auch der Einfall, den Tänzern der Ballettmusik im Kriegslager Totenmasken aufzusetzen, neigt dieser Ballettauftritt doch sehr häufig zum Kitsch, von dem er durch die gruselige Stimmung befreit wurde. Natürlich kann man dem Regisseur vorwerfen, gerade in Zeiten wie diesen das „Evviva la guerra, è bella la guerra“ Preziosillas nicht hinterfragt zu haben, aber das ist wohl nur im Rahmen einer Interpretation möglich, die an nichts in diesem Stück glaubt, und da fällt es mir entschieden leichter, die Szene wie sie ist zu akzeptieren anstatt das ganze Stück auf den Kopf gestellt zu sehen.
Die musikalische Umsetzung war mit einem kleinen Abstrich ganz hervorragend. Roberto Abbado dirigierte das Werk zum ersten Mal, und in jedem Moment war herauszuhören, wie gründlich er sich mit der Partitur befasst hatte. Nach einer puncto Lautstärke leicht „überinterpretierten“ Ouverture erklangen alle Szenen des von Verdi als großes Gemälde
angelegten Werks in der vom Komponisten gewünschten „tinta“ (Farbe). Bei der Premiere (die besprochene Vorstellung ist die zweite von vier) gab es allerdings lautstarke Proteste, weil in dieser Co-Produktion mit Bologna Orchester und Chor des dortigen Teatro Comunale anstatt der Kräfte aus Parma eingesetzt wurden. An diesem zweiten Abend hatten sich die Gemüter offenbar schon beruhigt. Orchester und Chor (dieser einstudiert von Gea Garatti Ansini) lieferten eine hochprofessionelle Leistung.
Der Abstrich/Einwand hat mit Liudmyla Monastyrska als Leonora zu tun. Leider neigt ihr Sopran nun zu einem verstärkten Vibrato, das man in Kreisen von Wiener Opernfans als „Schepperer“ bezeichnen würde. Die Spitzentöne waren des öfteren herausgeschrien, die Diktion verschwommen wie eh und je. Dazu gesellte sich ein mehr als hölzernes Spiel (s. o.). Das verbindet sie mit Amartuvshin Enkhbat, womit die Parallelen zum Glück schon beendet sind. Der Mongole verblüfft immer wieder mit einem Bariton, der „all’antica“ eingesetzt wird, will heißen mit bewunderungswürdiger Atemtechnik, die keinen Registerwechsel hören lässt und die Stimme voll zum Erblühen bringt. Auch das Legato ist tadellos – man würde sich nur ein ganz klein wenig mehr Anteilnahme wünschen.
Als Alvaro verblüffte einmal mehr Gregory Kunde mit einem durchschlagskräftigen, heroisch timbrierten Organ, wie es oft auch bei wesentlich jüngeren Tenören nicht zu hören ist. Kunde verfügt außerdem auch über bestens gestützte piani und deckt damit alle Ansprüche an seine Rolle ab. Ich hätte mir etwas mehr Wehmut im Rezitativ von „Tu che in seno agli angeli“ gewünscht, aber das bedeutet ein Meckern auf allerhöchstem Niveau. Mit seinem Bassbariton
füllte Marko Mimica die Bassrolle des Padre Guardiano mit leichten Defiziten in der extremen Tiefe aus, aber der junge Kroate verstand es souverän, der Figur die rechte humane Autorität zu verleihen. Roberto De Candia löste den Melitone aus jeder scherzhaften Darstellung heraus und verlieh ihm die richtigen misanthropischen Züge. Das alles mit einer Stimme, die es zur Freude machte, die Rolle einmal mit üppigen Mitteln gesungen zu hören. Auch die Preziosilla
der Annalisa Stroppa gefiel nicht nur mit ihrer herzhaften szenischen Interpretation, sondern überraschte auch damit, dass ihr heller Mezzo die Tiefen der Rolle bestens meisterte, die Höhen ohnedies.
Auch die Nebenrollen waren bestens (auch hier mit einer Ausnahme) besetzt: Andrea Giovannini gab einen nachdrücklichen Mastro Trabuco, Natalia Gavrilan eine mitfühlende Curra, Jacobo Ochoa einen überzeugenden Alkalden, und Andrea Pellegrini nutzte die strichlose Aufführung, um dem Alvaros Leben rettenden Chirurgen Profil zu verleihen. (Übrigens war auch in Don Carlos‘ Cabaletta zu seiner großen Arie ein sonst üblicher Strich aufgemacht, der dem Publikum die Möglichkeit gab, sich noch länger an Enkhbats gloriosem Bariton zu erfreuen). Marco Spotti hingegen war ein sehr hohl klingender Marchese di Calatrava.
Großer Jubel für alle, mit Spitzenwerten für Kunde, Enkhbat und De Candia; Monastyrska wurde vor den ihr bei der Premiere gewidmeten Buhs verschont.
Eva Pleus, 15.10.2022
Giuseppe Verdi – Messa da Requiem 1874 / Premiere am 23.09.2022 Teatro Regio di Parma
Musikalische Leitung: Michele Mariotti
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
Solisten: Marina Rebeka, Varduhi Abrahamyan, Stefan Pop, Riccardo Zanellato
Giuseppe Verdi – La forza del destino / Premiere am 22.09.2022 Teatro Regio di Parma
Inszenierung: Yannis Kokkos
Musikalische Leitung: Roberto Abbado
Orchestra Del Teatro Comunale Di Bologna