Lieber Opernfreund-Freund,
zu Verdis fünfte Oper Ernani gehörte zu seinen Lebzeiten noch zu den am häufigsten aufgeführten Verdiopern, tritt heutzutage jedoch allenfalls bei der einen oder anderen Operngala mit Elviras Auftrittsarie Ernani, involami in Erscheinung. Anlässlich des 200. Theaterjubiläums präsentiert das Theater Aachen nun diese Rarität und das Musiktheaterkollektiv macht es zu einem fulminanten Opern-Happening.

Die Oper spielt zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Aragonien. Elvira muss eine wahre Schönheit sein, ist sie doch gleich von drei Männern umschwärmt: von Ernani, einem verstoßenen Adeligen, der als Räuber in den Wäldern lebt, von ihrem Onkel Silva, einem spanischen Granden, und von keinem geringeren als Don Carlos, dem König von Spanien. Ihr Herz gehört natürlich dem verwegenen Räuber (der wohl auch der jüngste des Trios sein dürfte). Als Carlos die Königskarte zieht und einfach befiehlt, dass Elvira mit ihm kommt, verbünden sich Silva und Ernani. Letzterer schwört, dass er sich als Preis für die gemeinsame Rettung Elviras sofort umbringen wird, sobald Silva ein Horn erklingen lässt. Im dritten Akt wird Carlos im Aachener Dom zu Kaiser Karl V. gekrönt, lässt Milde walten und erlaubt den beiden Verliebten die Heirat. Doch auf der Hochzeitsfeier erklingt das schicksalsbringende Horn – Silva fordert unnachgiebig, dass Ernani seinen Schwur einlöst.

Die Tatsache, dass Teile der Oper im Aachener Dom, also einen Steinwurf vom Theater entfernt, spielt, nutzt das Musiktheaterkollektiv AGORA, bestehend aus Anna Brunnlechner, Benjamin David und Valentin Köhler, für einen genialen Coup. Die einzelnen Bilder werden in unterschiedlichen Zeiten angesiedelt und in unterschiedlichen Stilen inszeniert: das erste Bild verorten sie 1519 in einer schlichten, an ein Papiertheater erinnernde Kulisse vor einem mittelalterlichen Schloss, das zweite in den Logen des Teatro La Fenice bei der Uraufführung von Verdis Werk 1844. Danach geht es ins Hier und Jetzt: zuerst noch auf der Theaterbühne in ein modern eingerichtetes Apartment des Jahres 2025 und schließlich holt AGORA die Aufführung auch räumlich in das Leben der Zuschauer. Die pilgern in der Pause zum wenige hundert Meter entfernten Aachener Dom und erleben gewissermaßen am Originalschauplatz den dritten Akt. Das Krönungsbankett findet nach der Rückkehr des Theaters auf der Bühne statt, Teile des Publikums nehmen dort Platz und verfolgen an weiß gedeckten Tafeln den tragischen Ausgang des Werks.
Dieser Ansatz ermöglicht an vielen Stellen die Umsetzung origineller szenischer Ideen: da werden Träume auf die Gaze projiziert oder originelle Nebenhandlungen spielen sich in benachbarten Logen ab. Das lockert das Werk auf und taugt bestens zur Unterhaltung des Publikums. Und natürlich ist die große Szene des Don Carlos am Originalschauplatz ein unvergessliches Erlebnis. „Was bringt das ganze Brimborium für die Interpretation des Werks oder dessen Verständnis?“, höre ich Kritiker fragen. Absolut nichts – so ehrlich will ich sein. Aber AGORA beschert mir mit dieser außergewöhnlichen Umsetzung den originellsten und denkwürdigsten Musiktheaterabend seit langem.

Auch die musikalische Qualität entwickelt sich im Laufe des Abends beachtlich. Gasttenor Michael Ha hat zu Beginn noch sehr mit der Höhe zu kämpfen, singt sich aber bald frei und präsentiert dann einen heißblütigen Ernani mit virilem Ausdruck. Larisa Akbari betört als Elvira zu Beginn mit funkelnden Höhen, wird aber im weiteren Verlauf auch stimmlich zur Kämpferin mit saftig-expressiver Mittellage. Vladislav Solodyagin trumpft von Beginn an mit eindrucksvollem Bass als Silva auf, während mir der Don Carlos von Hròlfur Sæmundsson in der ersten Hälfte des Abends noch recht gestelzt daher kommt. Der kurze Spaziergang zum Dom hat dem Isländer allerdings offensichtlich so gut getan wie mir – vielleicht hatte auch ein Eis auf dem Weg. Im Rund des Aachener Doms gelingt ihm ein denkwürdiger Don Carlo-Monolog zu den Orgelklängen von Areum Jo und auch in der letzten Szene im Theater zeigt er einen leidenschaftlichen Bariton voll emotionaler Tiefe. Auch die Herren des Chores kommen in der ersten Szene noch recht verhalten über den Graben, überzeugen aber, wie die Damen vom ersten Ton an, ab dem Finale des zweiten Aktes mit voluminösem Verdigesang unter der Leitung von Jori Klomp.

Im Graben hält Christopher Ward bei dieser exzeptionellen Produktion die Fäden fest zusammen, gefällt mir mit einem straffen Verdi-Dirigat ohne allzu viel Sentiment. Klanglich am außergewöhnlichsten ist sicher die Krönungsprozession vom Dom zurück zum Theater, während der die Musiker der Stadtgarde „Oecher Penn“ von 1857 e.V. den musikalischen Takt in Marschform angeben.
Sie merken, lieber Opernfreund-Freund, nichts ist gewöhnlich an dieser Geburtstagsproduktion des Aachener Theaters. AGORA bringt das Theater in die Stadt und die Stadt auf die Bühne des Theaters. In diesem Fall eine Win-win-win-Situation für das Theater, die Zuschauer und Verdis Ernani. Unbedingt hingehen!
Ihr
Jochen Rüth
16. Juni 2025
Ernani
Oper von Giuseppe Verdi
Theater Aachen
Premiere: 7. Juni 2025
besuchte Vorstellung: 15. Juni 2025
Regie, Konzept und Ausstattung: Musiktheaterkollektiv AGORA (Anna Brunnlechner, Benjamin David, Valentin Köhler)
Musikalische Leitung: Christopher Ward
Sinfonieorchester Aachen
Stadtgarde „Oecher Penn“ von 1857 e.V.
weitere Vorstellungstermine: 21., 25. und 29. Juni sowie 5. und 8. Juli 2025