Die Liebe ist der Held
Romeo und Julia sind durch Shakespeares Tragödie zum bekanntesten Liebespaar der Literaturgeschichte geworden, wenn sie auch in Hero und Leander, Pyramus und Thisbe, Tristan und Isolde, Flore und Blanscheflur sowie Troilus und Cressida bedeutende Vorläufer haben. Shakespeares Bearbeitung von Arthur Brookes Epos The Tragical History of Romeus and Juliet stand wiederum Pate für unzählige Adaptionen in Literatur und Oper, darunter den Vertonungen von Bellini, Gounod und in jüngerer Zeit von Leonard Bernstein mit seinem Erfolgsmusical West Side Story. Gounod und seine Librettisten Jules Paul Barbier und Michel Florent Carre halten sich in Aufbau und Text eng an die Vorlage Shakespeares, erfinden aber im 1. Bild des 4. Akts eine Hochzeitsszene zwischen Graf Paris und Juliette hinzu, bei der Juliette effektvoll vor aller Augen wie tot zusammenbricht, und lassen die Tragödie mit dem Chor enden, der noch einmal wie im Prolog zu Beginn die Liebestragödie Romeos und Julias in die Feindschaft zweier mächtiger rivalisierender Familien in Verona einbettet und kommentiert.
Dabei rücken Gounod und seine Librettisten den tragischen Konflikt der Liebenden ganz ins Zentrum der Partitur, wohingegen es bei Shakespeare auch um die Themen Eigenliebe und echte Liebe, Familie und Eltern-Kind-Konflikte, Freundschaft und Feindschaft, Rivalität, Ehre und Verrat und um die Macht des Schicksals geht, die der freien Willensentscheidung Grenzen setzt. Die Aussöhnung der verfeindeten Familien steht bezeichnenderweise bei Gounod nicht explizit wie bei Shakespeare am Ende der Tragödie, sondern der selbstbe-stimmte Tod der Liebenden, der als ein Sieg über das Schicksal und alle gesellschaftlichen Widerstände, als ein letzter bitterer Triumph über Engstirnigkeit, Vorurteile und unheilvolle Zufälle zu verstehen ist.
Ewa Teilmanns Inszenierung nimmt diesen Ansatz Gounods und seiner Librettisten auf und erzählt in stimmungsvollen Bildern die Tragödie der Liebenden einfühlsam nach. Dabei verlegt sie die Handlung in eine nicht näher ausgewiesene Gegenwart, wie das Outfit der handelnden Personen belegt. Pater Laurent trägt z.B. Schirmmütze, Lederjacke und roten Schal. Nur ein Kreuz, das über seiner Brust baumelt, verrät ihn als Geistlichen. Allerdings streift er sich „im Amt“ eine lange schwarze Soutane über. Die Herren erscheinen im Anzug, Romeo ist modern gekleidet, Julia trägt ein schlichtes weißes Kleid, das ihre kindliche Unschuld und Reinheit symbolisiert.
Dass Julias und Romeos Liebe tragisch enden wird, verrät schon das Bühnenbild, das als Metapher für die zerstörerischen gesellschaftlichen Umstände gedeutet werden kann. Der halb verfallene Chor einer einstmals prächtigen Barockkirche, der auf seiner Rückseite nur dank stützender Stahlträger stehen bleibt (Bühne: Elisabeth Pedross), ist in Vorder- und Rückseite Schauplatz der Kämpfe zwischen den Capulets und Montagues, des Kostümfests der Capulets, wo sich Romeo und Julia zum ersten Mal sehen, der heimlichen Begegnungen der Liebenden und schließlich ihres tragischen Endes. Ein riesiges kreisrundes Loch in der Rückwand bietet die Möglichkeit, sehr variationsreich und stimmungsvoll durch das hier einfallende Licht die szenischen Abläufe zu illustrieren (Licht: Dirk Sarach-Craig). Die Kanzel der Kirche ist der Ort, wo Julia in der berühmten Balkonszene sich selbst ihre Liebe zu Romeo gesteht. Einige Plakate mit Jesusabbildungen erinnern an die einstige Bestimmung des verfallenen Gebäudes.
Wirkt die Choreografie (Hakan T. Aslan) der Festgesellschaft im ersten Akt noch eher hausbacken, wenn die in prächtige Kostüme (Andreas Becker) gekleideten Maskenballbesucher rhythmisch im Takt der Musik ihre Arme strecken und tanzen, so gewinnt die Inszenierung zunehmend an Drive. Das 2. Bild des 3. Aktes bietet eine rasante Kampfszene, die den Solisten und Choristen geradezu akrobatische Fähigkeiten abverlangt. Wunderschön gelingen Ewa Teilmanns indes vor allem die Liebesszenen zwischen Romeo und Julia, die geradezu einen poetischen Reiz entfalten. In der berühmten Begegnung vor Romeos Verbannung bedeckt die Bühne ein weißes Tuch, in das sich die nur noch leicht bekleideten Liebenden einwickeln und damit vor jeder neugierigen Beobachtung schützen. Diese Szene entbehrt trotz der erotisch aufgeladenen Situation und viel Nacktheit der Protagonisten jeglicher Peinlichkeit und verzaubert durch die Darstellung der innigen, „unschuldigen“ Liebe zweier junger Menschen, die sich über alle familiären und gesellschaftlichen Widerstände hinwegsetzen.
Musikalisch hält die Aufführung mit dem Niveau der Inszenierung Schritt. Mit Larisa Akbari als Juliette und Alexey Sayapin als Roméo präsentiert die Oper in Aachen ein Sängerpaar, um das manch renommiertes Opernhaus Aachen beneiden dürfte. Besonders in den eher elegischen und träumerischen Passagen entwickelt der federleichte Sopran Larisa Akbaris einen narkotisierenden Klang, der unter die Haut geht. Sie singt die Koloraturen mit bewundernswerter Agilität und Natürlichkeit und besitzt auch in den großen Steigerungen der Liebesduette die nötige Verve und Attacke. Leider unterlaufen ihr aber gerade in diesen Passagen unnötig scharfe und ungedeckte Spitzentöne, die aus der ansonsten wunderschönen Gesangslinie verstörend herausfallen. Insgesamt aber dennoch eine auch schauspielerisch wunderbare junge Sängerin, der sicherlich noch eine große Zukunft offensteht.
Alexey Seyapin bleibt der anspruchsvollen Partie des Roméo nichts schuldig. Er ist auch figürlich der jugendliche Liebhaber, den man sich für diese Rolle wünscht. Seine in der Mittellage herrlich strömende Tenorstimme hat deutlich an Körper und Ausdruckskraft gewonnen. Die Spitzentöne singt er mit nie endender Mühelosigkeit und Leuchtkraft. Eine in jeder Beziehung bewundernswerte Leistung, die Sayapin auch für große Häuser in dieser Rolle interessant werden lässt.
Auch alle anderen Rollen sind in Aachen gut besetzt. Stellvertretend seien hier Woon-jo Choi als Bruder Laurent, Soon-Wook Ka als Tybalt und Fabio Lesuisse als Mercutio hervor-gehoben. Es ist schon erstaunlich, welch exzellente Stimmen ein so kleines Theater wie Aachen aufzubieten hat. Christopher Ward befeuerte Opernchor und Extrachor Aachen (Jori Klomp) sowie das Sinfonieorchester Aachen zu einer rundum gelungenen Wiedergabe der vorimpressionistischen Musik Gounods mit ihrer typischen französischen Klangfarbe. So gut hat man dieses Orchester lange nicht mehr spielen hören, sicherlich ein großes Verdienst des neuen Generalmusikdirektors.
Das Publikum im fast ausverkauften Haus feierte alle Beteiligten an dieser gelungenen Produktion mit großem Beifall. Besondere Ovationen galten vor allem Larisa Akbari, Alexey Sayapin und Christopher Ward. Und das völlig zu Recht!
Fazit: Dem Theater Aachen ist eine bemerkenswerte Aufführung gelungen, die sich alle Opernliebhaber nicht entgehen lassen sollten.
Weitere Termine: 15.12./20.12./25.12./31.12.2018/13.01.2019
Norbert Pabelick 12.12.2018
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