01.12.2019
Eine stufenförmige Rampe. Ein Weihnachtsbaum. Mit wenigen Mitteln schafft es das Produktionsteam, uns in die Welt des jungen Werthers zu entführen, und dem Publikum einen hochinteressanten Opernabend zu bereiten.
Die Oper schildert die Liebe des Dichters Werther zu Charlotte, die mit Albert verlobt ist. Sie heiratet ihn auch wie vorgesehen, was Werther das Herz zerreißt. Charlottes Schwester Sophie versucht vergebens, ihn zu trösten. Charlotte, die Werthers Seelenzustand ahnt, bittet ihn abzureisen. Er gehorcht und schreibt ihr ergreifende Briefe. Als er wiederkehrt, kann er die Situation nicht mehr ertragen und nimmt sich das Leben.
Goethes Briefroman hat einer ganzen Generation als dichterische Selbstdarstellung gegolten, fanden sie in ihm doch die Begegnung des jungen Goethe mit Lotte Buff in Wetzlar wieder, die mit einem gewissen Kestner verlobt war. Für die Geschichte der Aufklärung in Deutschland markiert der Roman einen großen Durchbruch, da Goethe die Einheit von sanften Empfindungen und leidenschaftlicher Zerrüttung des Protagonisten ohne moralisierende Warnungen erzählt.
Die oft geschilderte Selbstmordwelle, die der Roman unter unglücklich Liebenden zur Folge gehabt habe, konnte inzwischen als Fake-News der christlichen Kirchen entlarvt werden, die damit die Verbreitung des als sittenlos betrachteten Romans unterbinden wollten. Massenet hatte zusammen mit seinen Librettisten bereits einige Romanfiguren aufgewertet, andere hinzugefügt, da sich in Goethes Roman kaum brauchbare Nebenfiguren für die Umwandlung des Briefromans in ein dramatisches Geschehen finden.
Auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 folgte eine ungewohnt lange Zeit des Friedens. Sie war die Grundlage für einen deutlichen Aufschwung von Wirtschaft und Kultur in den europäischen Kernländern. Die Menschen dieser Periode – Belle Époche genannt – fühlten sich zweifellos in größerem Umfang als zuvor materiell gesichert und waren optimistisch hinsichtlich der politischen, technischen und kulturellen Aussichten. Der produktiv überragende Opernkomponist der Belle Époque war Massenet, der in dieser Zeit zwei dutzend Werke komponierte. Zeitweise war Werther an deutschsprachigen Bühnen die erfolgreichste französische Oper, die sogar Carmen an Aufführungszahlen überholte.
Massenet wurde eine Begabung für klare, helle Farben und flüsternde Melodien nachgesagt. Mit großer Geschmeidigkeit verschmelze er die verschiedenen Einheiten einer Oper bruchlos miteinander, so dass er insgesamt dem Ideal der Durchkomposition nahe kommt, wie besonders im Werther erlebbar wird, wo er endgültig auf das Nummernprinzip verzichtet. Massenet passt den musikalischen Fluss an die Besonderheiten der französischen Sprache an, woraus eine neuartig differenzierte Vielfalt von Massenets Musiksprache resultierte. Seine Fähigkeit, Frauen zu porträtieren, hat ihm den Rum eingebracht, musikalischer Geschichtsschreiber der weiblichen Seele zu sein. Massenet interessiert an den meisten Stoffen nur die psychologische Innenseite, meist aus der Perspektive der weiblichen Protagonistin. Im Werther präsentiert er uns neben der differenziert dargestellten Person der Charlotte das Seelenleben eines jungen Mannes.
Eine hölzerne Rampe auf der Bühne stellt den Zuschauerraum eines Kinos dar. Der Vorführer projiziert das Gesicht des Protagonisten auf einen vor der Bühne herabgelassenen Gaze-Vorhang. Kopfkino. Die Regie, Corinna von Rad, führt uns in die Gedankenwelt eines an seiner Liebe leidenden jungen Mannes. Corinna von Rad hat in Aachen bereits Hoffmanns Erzählungen von Offenbach und Agrippina von Händel inszeniert. Bühne: Steffi Wurster. Die Kostüme, Sabine Blickenstorfer, zeigen uns die Mode der Handlungszeit.
Kinder üben Weihnachtslieder, obwohl es noch Sommer ist. Schmidt und Johann, die Freunde des Amtmanns, laden diesen zu einem Bier ein. Charlotte, die älteste Tochter des Amtmanns, die an die Stelle der verstorbenen Muttergetreten ist, wird von Werther vom Ball abgeholt. Kaum ist sie fort, als Albert, Charlottes Verlobter, von einer Reise zurückkehrt und von Sophie erfährt, daß Charlotte mit dem jungen Dichter weggegangen ist. Als die Nacht herein bricht, kommen beide Arm in Arm zurück. Werther gesteht Charlotte seine Liebe, muß aber erfahren, daß sie ihrer sterbenden Mutter versprochen hat, Albert zu heiraten.
Stühle, die immer mal wieder umgestellt werden. Ein Weihnachtsbaum, der auch schon mal umfällt. Die Umrisszeichnung eines Toten auf dem Rampenboden erinnert uns an das bekannte Ende der Geschichte.
Inzwischen ist es Herbst. Albert und Charlotte haben geheiratet. Werther spürt, daß Charlotte ihn auch liebt, und ist verzweifelt. Er kann sich mit dem Geschehenen nicht abfinden. Während die Goldene Hochzeit des Pfarrers gefeiert wird, versucht Albert, dem die Spannungen zwischen seiner Frau und Werther nicht verborgen geblieben sind, mit Werther zu sprechen. Dieser erinnert sich an den vergangenen Sommer und seine Liebe zu Charlotte, die davon jedoch nichts mehr hören will. Werther stürzt verzweifelt davon.
Soon-Wook Ka singt die sehr schwere Partie des Werthers in den lyrischen Passagen mit auf dem Atem liegender Stimme. Er präsentiert uns zauberhaften Belcanto mit weiten Legatolinien. Schön, dass er wieder nach Aachen zurück gekehrt ist. Soon-Wook Ka ist eine Bereicherung für das Aachener Ensemble.
Stimmlich ebenfalls sehr stark die junge Alexandra Yangel in der Partie der Charlotte, die normalerweise an der Wiener Staatsoper singt.
Albert wird von dem hübschen, jungen und stimmschönen Bariton Fabio Lesuisse gesungen. Es wird wohl nicht nur der Schwur gegenüber der Mutter gewesen sein, weswegen Charlotte sich für ihn als Bräutigam entschieden hat. Aber auch Rosha Fitzhowle in der Partie der Sophie hat eine lobende Erwähnung verdient.
Weihnachten. Das Treppenpodest ist aufgerissen, genau wie Charlottes Seele. Der Weihnachtsbaum, der später auf die Bühne gebracht wird, hat keine Nadeln mehr. Charlotte ist allein und denkt an Werther, der ihr eine Reihe Briefe geschrieben hat. Sie hat erkannt, dass sie ihn ebenfalls liebt. Als Werther eintrifft, wirbt er stürmisch um seine Geliebte, die sich nur mühsam aus seine Umarmung löst. Werther stürzt verzweifelt davon, diesmal entschlossen, sich zu töten. Er verlangt von Albert Pistolen, die er auf eine Reise mitzunehmen gedenke. Albert fordert Charlotte auf, die Waffen zu übergeben. Anschließend eilt Charlotte voll der schlimmen Ahnungen zu Werther. Sie findet ihn schwer verletzt vor. Werther stirbt in Charlottes Armen, die ihm endlich ihre Liebe gesteht. Als Beleg, dass es sich um wahre Liebe, und nicht nur Mitleid mit dem Sterbenden handelt, lässt Massenet erneut das Mondscheinmotiv erklingen. Von draußen hört man die lustigen Weihnachtslieder der Kinder.
Die grossartige Musik Massenets liegt in den Händen der neuen Ersten Kapellmeisterin Yura Yangs, die mit dieser Produktion ihr Hausdebüt feiert. Zwischen ihr und dem Sinfonieorchester Aachen scheint die Chemie jetzt schon zu stimmen, gelingt doch ein musikalisch vollumfänglich gelungener Abend.
Die Gesangssolisten bieten musikalisch allesamt solide Leistungen, wie auch der Kinder- und Jugendchor, geführt von Jori Klomp, mit großer Begeisterung seine Aufgaben erfüllt.
Verdienter langanhaltender Applaus.
Ingo Hamacher, 3.12.2019
Bilder (c) Marie-Luise Manthei
Credits
Musikalische Leitung: Yura Yang
Inszenierung: Corinna von Rad
Bühne: Steffi Wurster
Kostüme: Sabine Blickenstorfer
Choreinstudierung: Jori Klomp
Video: Luca Rois, Steffi Wurster
Dramaturgie: Pia-Rabea Vornholt
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Werther: Soon-Wook Ka
Albert: Fabio Lesuisse
Le Bailli, der Amtmann: Christoph Stephinger
Schmidt, ein Freund des Amtmanns: Patricio Arroyo
Johann, ein Freund des Amtmanns: Stefan Hagedorn
Charlotte: Alexandra Yangel
Sophie, ihre Schwester: Rosha Fitzhowle
Fritz, Max, Hans, Karl, Gretel, Clara: Kinder- und Jugenchor Aachen
Statisterie Theater Aachen
Sinfonieorchester Aachen
Weitere Termine:
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