Bielefeld: „Die diebische Elster“, Gioachino Rossini

Wie aktuell Musiktheater sein kann, beweist das Theater Bielefeld mit Rossinis eher unbekannter Oper La gazza ladra. Handelt es doch von dem Verbreiten von vorschnellen Urteilen, ihrer unkritischen Rezeption und der beinahe daraus resultierenden Vernichtung einer menschlichen Existenz. Wer die Ouvertüre kennt, wird eine opera buffa erwarten, doch es handelt sich um ein Melodrama oder auch semiseria, komponiert 1817 auf dem Höhepunkt von Rossinis künstlerischem Schaffen. Anders als bei seinen Buffo-Opern oder Dramen greift er nicht auf literarische Vorlagen zurück, sondern auf einen konkreten Fall aus Frankreich, der zu einem Schauspiel verarbeitet wurde. So wie wir uns heute kaum dem medialen Dauerfeuer von diversen Medien entziehen können, stehen hier Rossinis Protagonisten unter dem permanenten Einfluss von Spekulationen darüber, wer den silbernen Löffel gestohlen haben könnte. Schnell steht Ninetta, die Hausangestellte bei den Vingraditos, unter Verdacht, verstärkt von einigen unbedachten Äußerungen der Beteiligten.

© Bettina Stöß

Zu ihrem Pech – es ist Kriegszustand – ist ihr Vater Fernando Deserteur und ihr Geliebter Giannetto, Sohn ihrer Arbeitgeber, auf Fronturlaub, eher der passive Don Ottavio-Typ aus Mozarts Don Giovanni. Und vor allem setzt auch noch der Podestà – Bürgermeister und Richter – sie sexuell unter Druck. #Metoo wird also auch thematisiert, wobei Ninetta standhaft bleibt. Das hilft ihr nicht – im Gegenteil, sie wird unter Kriegsrecht zum Tode verurteilt. Zum Glück entdeckt der junge Diener Pippo den Löffel im Nest der Elster, die sich die Vingraditos als Haustier halten. Ninetta kann begnadigt werden, ihr Vater wird vom König amnestiert. Pippo ist eine Hosenrolle, steht also die Unverdorbenheit von falschem Geschwätz; Ninetta attestiert ihr Herzensgüte. Ein Plädoyer für Smartphone-Verbot für Heranwachsende, könnte man heute interpretieren.

In dieses Heute interpretieren Regisseurin Ana Cuéllar und ihr Team diese Handlung. Schon während der ausgedehnten Ouvertüre wird das auf einer Drehbühne (von Manuel La Casta) sich befindende Anwesen der Vingraditos vorgestellt. Durchgestylte, kühl sterile Räume, die später auch zu Gefängniszelle und Gerichtssaal werden, werden von Personen bevölkert, die sich als Choristen entpuppen. Herr und Frau Vingradito sind in der Finanzbranche tätig, wo sie offenbar auch in der Kriegssituation erfolgreich sind, denn der Verlust eines silbernen Löffels regt sie nicht weiter auf. Ihr im Krieg erfolgreiche und nun bei der Heimkehr bejubelte Sohn Giannetto leidet unter einem Trauma, denn er kann sich Ninetta nicht nähern, vielmehr zieht sie einen blutverschmierten Teddy aus seinem Rucksack. Einen blutgetränkten Verband trägt ihr Vater, dem wegen Fahnenflucht die Todesstrafe droht. In ihrer Bravourarie, die Ninetta zu Beginn singt, ist die Fröhlichkeit nur aufgesetzt; vielmehr wird eine wütende Ninetta vorgestellt. Man merkt schnell, dass es ernst zur Sache gehen wird, und tatsächlich entwickelt sich die Geschichte ausgehend von des Podestàs Begehren nach Ninetta. Er ist die beherrschende Gestalt und treibt mit seinen Spielchen die Handlung voran. Man braucht ihn gar nicht mit orangenem Teint zu schminken und ihm keine weiße Föhnfrisur zu verpassen, um Assoziationen zu einer lebenden Person aufkommen zu lassen. Auch trägt er keine rote Krawatte, sondern gleich einen roten Anzug.  Eine ausgefeilte Personenregie und lebendiges Agieren der Protagonisten fesseln das Publikum für den Rest des Abends, in dem auch Humor nicht zu kurz kommt. In der verstörenden Kerkerszene, in der der Podestà versucht, Ninetta zu vergewaltigen, fliegen im wahrsten Sinne des Wortes die Fetzen (ein Intimitätscoaching wird im Programmheft nicht erwähnt).

Der Chor besteht aus Individuen mit je eigenem Verhalten, auch wenn er in Gänze als Masse der Autorität vertraut und die Todesstrafe für Ninetta zwar bedauert, aber akzeptiert. In der Barockoper rettet der Deus ex machina am Ende die Situation, hier ist es die Maschine selbst, nämlich der Saugroboter, der gelegentlich über die Bühne surrt und in dem Pippo den fehlenden Löffel findet. So wird diese Inszenierung zu einer Abrechnung mit rücksichtslosem patriarchalischem Verhalten von Amtsträgern, aber auch von willigem Verhalten ihrer Untergebenen, wobei die Personen auf der untersten Ebene der Gesellschaft, nämlich Pippo und der Gefängniswärter Antonio, sich positiv davon abheben, aber auch eine Abrechnung mit dem Einfluss der Technik auf unser Alltagsleben, denn auch Videos gaukeln die Wahrheit vor. Denkbar wäre auch eine Inszenierung, die vom Ende herdenkt, nämlich der Rettung Ninettas, und die ganze Geschichte zuvor als satirische Groteske erzählt und auch die Musik entsprechend liest. Denn Rossini komponiert eine Musik oft in moll (und greift als eine der wenigen Ausnahmen kaum auf vorhandenes Material zurück), die doppelbödig ist und den Ernst der Lage widerzuspiegeln scheint. Zu der schwungvollen Melodie aus der Ouvertüre erwartet der Chor die Hinrichtung Ninettas, und auch die einleitenden Trommelwirbel und der anschließende Marsch zum Richtplatz sind dieser Szene zuzuordnen. Die Szenen sind oft länger als gewöhnlich, wodurch die Rossini-typischen Crescendi noch bedrohlicher wirken. Sonst klingt Belcanto eines Bellini oder frühen Verdi an. Das dramatische Trio Ninetta-Podestá-Fernando im ersten Akt verweist auf die kommende Komponistengeneration, und das berührende Duett im Gefängnis zwischen Ninetta und Pippo ist von großer emotionaler Tiefe. Es wird eine leicht gekürzte Fassung gegeben, so fehlt die Arie der Lucia in der 12. Szene. Zum Erfolg der Aufführung trägt die großartige Umsetzung dieser Musik durch die Protagonisten bei. Der Bassist Joshua Bloom ist mit jeder Faser nicht nur in der Kehle der autoritäre, sexbesessene Podestà – besser kann man diese Figur nicht darstellen.

© Bettina Stöß

Veronika Lee überzeugt mit reinem, höhensicherem und strahlendem Sopran als bedrängte und kämpfende Ninetta. Alternativ singt diese Rolle Mayan Goldenfeld; es wäre sicher interessant, sie zum Vergleich hören zu können. Die Herzensgüte in Person ist Sophia Maeno als Pippo; mit ihrem warmen, runden Mezzo und natürlichem Spiel ist sie eine echte Sympathieträgerin. Mit seinem hellen, lyrischen, wohlklingenden Tenor überzeugt auch Andrei Skliarenko als Giannetto. Sowohl Emphase als auch Belcanto beherrscht Evgueniy Alexiev in der Vaterrolle Fernando. Sein warmer Bariton kann in den ariosen Passagen wunderbar aufblühen. Auch die übrigen Rollen sind angemessen besetzt. Eindrucksvoll singt und spielt auch der Chor. Mit sicherer Hand leitet Kapellmeister Gregor Rot die Aufführung, allerdings hätten ein paar zusätzliche Streicher im Graben dem Klang der Bielefelder Philharmoniker mehr Volumen gegeben, schließlich ist es keine kleine Angelegenheit, die über die Bühne geht. Das Premierenpublikum zollte allen Beteiligten frenetischen Applaus für dieses ebenso betroffen machende wie aktuelle und unterhaltsame Musiktheater.

Bernhard Stoelzel 8. September 2025


La gazza ladra
Gioachino Rossini
Theater Bielefeld

6. Dezember 2025 (Premiere)

Inszenierung: Ana Cuéllar
Musikalische Leitung: Gregor Rot
Bielefelder Philharmoniker