Hinter dem irreführenden Titel „Die Ameise“ verbirgt sich in kafkaesker Manier die Geschichte der toxischen Beziehung des Gesangslehrers Maestro Salvatore zu seiner minderjährigen Schülerin Formica (lateinisch für Ameise). Das Abhängigkeitsverhältnis des 60-jährigen Lehrers zu seiner Schutzbefohlenen endet für das Mädchen tödlich. In vier Akten verarbeitet der des Mordes angeklagte Künstler seine obsessive Beziehung zu seiner Schülerin, die er als 16-jährige in sein Haus aufgenommen hat. Sie sei sein Geschöpf, ohne seine pädagogischen Künste ein Nichts. Mit der vielfarbigen Musik des Komponisten und Dirigenten Peter Ronnefeld entsteht ein verstörender surrealer Bilderbogen über Mechanismen, die wir alle aus der Wirklichkeit sehr gut kennen. Der Chor kommentiert die Handlung und verkörpert in starken Sätzen das Volk.

Der Musikpädagoge Maestro Salvatore steht vor Gericht. Man hat ihn neben der Leiche seiner minderjährigen Gesangsschülerin Formica angetroffen. Der Maestro beteuert seine Unschuld, aber die Beweislast ist erdrückend. Im Gefängnis dressiert er eine Ameise, der er das Singen beibringt. Als er nach seiner Entlassung diese Ameise als Star in einer Revue präsentieren will, wird sie irrtümlich von einem Kellner zertreten und vernichtet.
Die erste Oper des jungen Teams aus Librettist Richard Bletschacher, Dramaturg an der Wiener Staatsoper, und des Komponisten Peter Ronnefeld, der, in vielen stilistischen Welten bewandert, als Assistent Herbert von Karajans eine große Karriere als Dirigent vor sich hatte, entstand Ende der 50-er Jahre und wurde 1961 unter der Leitung des Komponisten in Düsseldorf uraufgeführt. Zu der Zeit war Ronnefeld Kapellmeister in Bonn, aber Bonn hatte noch kein Opernhaus. Die Musikkultur in Deutschland war weitgehend zerstört. Das WDR-Sinfonieorchester spielte nicht nur sinfonische Musik, sondern auch Opern ein, weil noch viele Opernhäuser in Schutt und Asche lagen. Außer dem Kernrepertoire aus Mozart, Verdi, Wagner und Puccini war nicht viel übriggeblieben. Wichtigste moderne Komponisten der Zeit, deren Werke vereinzelt aufgeführt wurden, waren Hans Werner Henze, Carl Orff und Rolf Liebermann, vielleicht noch Werner Egk, Lehrer Ronnefelds. In das Kernrepertoire hat es keiner davon geschafft, außer vielleicht Carl Orff mit „Carmina Burana“. Ronnefeld verband, anknüpfend an Ernst Křenek (1900-1991), verschiedene Musikstile einschließlich Jazz im vierten Akt, komponierte durchaus für Stimmen, und gab jedem Charakter eine typische Instrumentierung als Begleitung. Der Chor spielt eine zentrale Rolle, denn Ronnefeld komponiert doppelchörig und lässt den Chor als Volk die Handlung, teilweise kontrovers, kommentieren. Musikalisch erinnern die Chöre in ihren ausgeprägten Rhythmen an die Tonsprache Carl Orffs.

Peter Ronnefeld und sein Librettist Richard Bletschacher haben einen Sachverhalt aufgegriffen, der damals im öffentlichen Diskurs noch keine Rolle spielte: In keinem anderen Bereich wie in der Ausbildung von Sängerinnen und Musikerinnen im Einzelunterricht können so toxische Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Mittlerweile haben alle Musikhochschulen Strukturen ausgebildet, um Machtmissbrauch bei Lernenden entgegenzuwirken. Dabei ist es vor allem das ungeheure Machtgefälle, das zwischen einem dominanten, charismatischen Lehrer und einer schwärmerisch-ergebenen Studentin entstehen kann, die vom überlegenen Meister manipuliert und mit übergriffigen Kommentaren über ihre Leistungen verunsichert wird. Ein so heikles Sujet kann man nur mit Distanz und mit surrealen Bildern adäquat behandeln.
Folgerichtig setzt Nikolaus Webern den Gerichtssaal mit großen Zuschauerbänken für den Chor als Einheitsbühnenbild, der mit einigen zusätzlichen Versatzstücken, die von der Decke schweben, zur Villa des Maestro, zur Gefängniszelle, und mit Lichtbögen zum Varietéetheater wird. Großen Eindruck machen die farbenprächtigen Kostüme von Constanza Meza-Lopehandia, die genau die soziale Stellung der Darstellenden charakterisieren, zum Beispiel das mondäne Tailleur von Formicas Mutter im Gegensatz zu Formicas schlichten, fast kindlich wirkenden Baumwollkleidern.
Kateryna Sokolova bleibt nahe beim überlieferten Libretto der Uraufführung in Düsseldorf, denn es habe keinen Sinn, einer Handlung, die ohnehin niemand kennt, eine andere Bedeutung zu geben, so die Regisseurin. Allerdings gibt sie sich Mühe, der Position des Opfers einen möglichst großen Raum zu geben.
Die Tote kann ihre Position nicht darstellen, nur der mutmaßliche Täter und einige Zeugen beschreiben und erleben ihre Erinnerungen an das Opfer. So liefert Dietrich Henschels Darstellung des Maestro Salvatore das perfekte Portrait eines etwas verschrobenen Pygmalion, der buchstäblich den Verstand verliert, als sein Geschöpf sich emanzipieren und sein Haus verlassen will. Dabei ist seine Zuneigung, ja Besessenheit von ihr, keusch und rein, denn sie stirbt als Jungfrau. Henschel ist ein Bariton der Sonderklasse und hat in Bonn 2023/24 als Moses in „Moses und Aron“ die von Schönberg auf Tonhöhen notierte Sprechpartie des Moses bravourös gemeistert. Er gilt international als Spezialist für moderne und zeitgenössische Oper, der eng mit Komponisten wie Wolfgang Rihm, Hans Werner Henze und Helmut Lachenmann zusammenarbeitet. Er wird international geschätzt für seine intensive Textausdeutung und Bühnenpräsenz, die er auch als Maestro Salvatore bewies.
Nicole Wacker, lyrisch-dramatische Koloratursopranistin, als seine Schülerin Formica, zeigt, was sie bereits kann und was sie bei ihrem Meister gelernt hat. Ihre Stimme ist gleichzeitig flexibel und stark. Ihre Koloraturarien sind hochvirtuos von Ronnefeld alten Vorlagen nachempfunden. Formica ist eindeutig die künftige Primadonna – umso tragischer, dass sie die Beziehung zum Maestro nicht überlebt. Zum Glück ist Nicole Wacker seit einem Jahr Mitglied des Ensembles der Bonner Oper und ist dort bereits als „Königin der Nacht“ aufgetreten.
Susanne Blattert als ihre Mutter vertraut ihre minderjährige Tochter dem Maestro persönlich an. Exaltiert beklagt sie den Tod ihrer Tochter. Sie ist ein typisches Beispiel, zu welchen verantwortungslosen Deals überehrgeizige Eltern bereit sind, um ihrem Kind eine Karriere zu sichern. Ein Entlastungszeuge ist Mark Morouse als Professor Mezzacore. Begleitet von tiefen Blasinstrumenten deutet er an, sein Kollege sei im Umgang mit seinen Schülerinnen immer hundertprozentig korrekt gewesen, er selbst habe aber durchaus gewusst, die jungen Damen „etwas breiter zu fördern“. Morouse machte aus seinem kurzen Auftritt die beeindruckende Charakterstudie eines alten Schwerenöters, der mich fatal an die Affäre um Siegfried Mauser, den Leiter der Münchner Musikhochschule, im Jahr 2018 erinnerte. Charaktertenor Ralf Rachbauer gestaltete als Kammerdiener seine Zeugenaussage über Formicas geplantem Auszug aus der Villa, bei dem er den Professor neben der Leiche Formicas gefunden habe, mit dramatischer Wucht. Auch die beiden Zellengenossen Taschenkletterer (Tae Wan Jun) und Fassadendieb (Carl Rumstadt) lieferten Kabinettstückchen derber Erzählungen erlebter Sex-Abenteuer, während Gefängniswärter Melter (Ján Rusko), selbst Insektensammler, den Maestro bedrängte, ihm die singende Ameise zu überlassen.
Der doppelchörig angelegte Chor des Theaters Bonn unter der Leitung von André Kellinghaus kommentierte als Zuschauer beim Gerichtsverfahren und als Gäste in der Revue das Geschehen und brachte auch noch einen faszinierenden polyphonen Chor lateinischer Insektenbezeichnungen. Roland Silbernagel und Svenja Wasser gaben einigen Sprechrollen Kontur, während Marina Rosenstein und Julius Westheide als Tanzende Akzente setzten. Kapellmeister Daniel Johannes Mayr dirigierte ein groß besetztes und inspiriert aufspielendes Beethoven Orchester, das seine Vielseitigkeit bewies, indem es im vierten Akt auch astreine Jazzmusik intonierte.
„Die Ameise“ wurde vom Premierenpublikum lebhaft beklatscht und mit langanhaltendem Beifall bejubelt. Es ist eine überaus witzige kafkaeske Groteske mit zeitlosen Themen, die vielschichtig gedeutet werden kann. Ich denke, dieser große Wurf eines jungen Teams wurde zu Unrecht vergessen, und ich wünsche dem Stück zahlreiche Wiederauflagen. Musikalisch findet Ronnefeld mit durchaus selbstbewussten Anforderungen an die Besetzung seine eigene eingängige Tonsprache. Dass das Stück nach 1961, abgesehen von einer konzertanten Aufführung unter Lothar Zagrosek in Wien 1987 nicht mehr inszeniert wurde, lag vermutlich daran, dass der 1935 geborene Komponist Peter Ronnefeld bereits im Alter von 30 Jahren verstorben ist. Er war von 1961 bis 1963 Chefdirigent an der Bonner Oper und hat die Uraufführung seiner Oper „Die Ameise“ 1961 in der Oper Düsseldorf selbst dirigiert. „Die Ameise“ ist Teil der zweiten Staffel des vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW geförderten Forschungsprojekts „Focus ´33“, dessen erster Teil am 27. Februar 2023 mit dem Oper! Award in der Kategorie „Beste Wiederentdeckung“ ausgezeichnet wurde.
Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 16. Dezember 2025
Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom OPERNMAGAZIN
Die Ameise
Peter Ronnefeld
Oper Bonn
Premiere am 14. Dezember 2025
Regie: Kateryna Sokolova
Dirigat: Daniel Johannes Mayr
Beethoven Orchester