Bonn: „Tootsie“, David Yazbek (zweite Besprechung)

Die Bonner Oper war voll, und es waren normale Menschen in der Mitte des Lebens, teilweise mit älteren Kindern, die mit großem Vergnügen das Musical „Tootsie“ sahen, und das an einem ganz normalen Montag vor Weihnachten. Sie spendeten reichlich Szenenapplaus und hatten offensichtlich großen Spaß. Das Musical „Tootsie“ wurde am 11. Oktober 2018 in einer Pre-Broadway- Produktion in Chicago gestartet und brachte es am Broadway auf 318 Aufführungen, es folgten eine National Tour USA mit 496 Aufführungen, eine Produktion in Buenos Aires mit 412 Aufführungen, eine Tournee in Spanien, die noch läuft, 2022 eine Produktion im Staatstheater am Gärtnerplatz, München und jetzt die in Bonn, die am 26. Oktober 2025 Premiere hatte, in Kooperation mit München. Auf so viele Aufführungen bringen es nur wenige Opern. Was hat das Musical, was die Oper nicht hat.

© Bettina Stöß

1982 hatte Dustin Hoffmann in einem Film, der für zehn Oscars nominiert war und vom American Film Institute auf Platz 2 der 100 besten Komödien aller Zeiten gesetzt war, seinen großen Auftritt als Mann in Frauenkleidern. Er spielte eine resolute selbstbewusste Frau um die 40, die als TV-Serienstar Karriere macht. Diesen Film haben Robert Horn (Buch) und David Yazbek (Musik) in ein wundervolles Musical verwandelt, das in der deutschen Übersetzung von Simon Hale einen perfekt getimten Gag nach dem anderen bringt. Es ist eine moderne Broadway-Musical Comedy. Die Musik von David Yazbek ist im klassischen Broadway-Sound mit Pop- und Jazz-Einflüssen und mit Vaudeville- Anklängen gehalten, und sie ist sehr humorvoll, energiegeladen und dialognah. Der Sound charakterisiert neben dem Stimmtyp sehr prägnant die dargestellte Person – zum Beispiel die arbeitslose Schauspielerin Sandy (Vera Bolten) mit einer Quietschstimme – und unterstützt die Pointen. Es ist eine gelungene Mischung aus Ensemble-Nummern, Comedy-Songs und emotionalen Balladen. Zusätzlich wird mit den Ensemble-Tänzen, die in ihrer perfekten Choreografie und Koordination eine Augenweide sind, das Genre „Broadway- Musical“ glamourös gefeiert.

Der arbeitslose Schauspieler Michael Dorsey bekommt bei einem Casting für ein Romeo-und-Julia-Musical unter dem Namen Dorothy Michaels als Frau verkleidet die Rolle der Amme und wird als Frau behandelt. Der cholerische Regisseur nennt sie „Tootsie“, was so viel heißt wie „Schätzchen“, eine abfällige Bezeichnung von Männern für Frauen. In seiner Rolle als Frau, die die Amme spielt, mischt Michael die gesamte Produktion auf. Aus „Romeo und Julia“ nach Shakespeare wird das Musical „Dorothy“. Der Darsteller des Romeo, nicht besonders heller Held einer Fernsehserie, aber mit großem Namen, verliebt sich unsterblich in Dorothy und lässt sich sogar ihr Bild auf die Brust tätowieren. Das Musical wird ein Bomben-Erfolg, aber als Michael sich in die Hauptdarstellerin verliebt, gerät er in eine ernsthafte Identitätskrise. Ein großer Teil der Gags bezieht sich auf Michaels Doppelrolle als Mann und Frau, der zum Teil rasante Identitätswechsel auf offener Bühne vollzieht, ein weiterer sind Seitenhiebe auf Theaterklischees wie sexistische Regisseure, einfallslose Autoren, herzlose Agenten, opportunistische Produzenten und arme ausgebeutete arbeitslose Schauspieler in der Mega-Theaterstadt New York. Dabei fehlt nicht ein sozialkritischer Hintergrund im Künstlermilieu und ein kräftiger Seitenhieb auf das sogenannte Regietheater, das die zugrundeliegenden Stücke – mittlerweile auch Opern – bis zur Unkenntlichkeit verändert, „dekonstruiert“, wie die Verfechter des Regietheaters sagen. Ist es Zufall, dass Daniel Berger, der Darsteller des Regisseurs Ron, die gleiche Frisur hat wie Peter Konwitschny, dessen Inszenierung der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss kürzlich in Bonn Premiere hatte und als Regietheater nicht allen gefiel?

Die Idee des Manns, der eine Frauenrolle spielt, kann man von Shakespeare herleiten, denn zu Shakespeares Zeit wurden alle Rollen, auch die Frauenrollen, von Männern gespielt, weil Frauen im 16. und 17. Jahrhundert nicht auf der Bühne auftreten durften. Ophelia, Julia oder Lady Macbeth wurden also ursprünglich von (jungen) Männern gespielt. Heute ist es anders, es sei denn, man entscheidet sich, zum Beispiel mitunter im Londoner Globe Theatre, für eine historisch informierte Aufführungspraxis.

Unter der musikalischen Leitung von Jürgen Grimm in der Regie von Gil Mehmert bringt das 20-köpfige Ensemble, ergänzt von Statisten des Theater Bonn, eine hervorragende Leistung. Das Bühnenbild von Judith Leikauf und Karl Fehringer ermöglicht mit Hilfe der Drehbühne nahtlose Szenenwechsel, die attraktiven Kostüme von Claudia Pohle wurden für die Bonner Inszenierung neu geschneidert. Herausragend ist Julian Culeman als Michael Dorsey alias Dorothy Michaels alias Tootsie, dem man die Frau, die er spielt, wegen der perfekten weiblichen Körpersprache, der Maske und der Kostüme voll abnimmt. Er füllt die Doppelrolle nicht nur als Sänger und Tänzer, sondern als Schauspieler, der eine Frau spielt, in jeder Hinsicht, mit Sinn für die komischen Details, aus. Dabei nimmt man ihm ab, dass er eben kein Crossdresser ist, sondern jemand, den wirtschaftliche Not getrieben hat, die Rolle seines Lebens, nämlich Dorothy Michaels, die die Amme spielt, zu spielen. Alexandra Farkic als Julie Nichols alias Julia und Jan Nicholas Bastel als Max van Horn, Darsteller des Romeo, sind Dorothys Bühnenpartner, und Max verliebt sich in Dorothy, Dorothy verliebt sich in Julia, was natürlich gar nicht geht, denn dann müsste sie ihre Identität preisgeben. Am Ende outet sich Michael, und es könnte eine Liebe zwischen Julia und ihm geben. Sein Rollenspiel als Dorothy ist jedenfalls damit beendet.

© Bettina Stöß

Das Theaterformat Musical kam aus den USA nach Europa, und im Gegensatz zur Oper werden die Stimmen der Singenden und das Orchester elektronisch verstärkt, man kommt also mit einer Band von 17 Musikern aus. Es wird im Sprachduktus gesungen, ohne Koloraturen und Wiederholungen wie in der Oper, und die Dialoge werden in der Landessprache gesprochen. Musicals werden in der Regel en Suite gespielt. Am Broadway, in London und in Hamburg spielen Theater oft jahrelang immer dasselbe Stück. „Das Phantom der Oper“ von Andrew Lloyd Webber lief am Broadway 35 Jahre lang von 1988 bis 2023 in 13 981 Vorstellungen. „Der König der Löwen“ mit Musik von Elton John läuft in Hamburg seit 2001 mit acht Vorstellungen pro Woche. Die Oper Bonn setzt jede Spielzeit eine Musical-Produktion an, 2024/25 war es „Hairspray“, 2023/24 „Frankenstein Junior“, die jeweils in mehr als 30 Vorstellungen über die Spielzeit verteilt angesetzt wurden. Die Musicals sind beim Publikum sehr beliebt und ein wichtiger Köder, Menschen ins Opernhaus zu locken. Auch andere Opernhäuser haben Musicals auf dem Spielplan, weil damit ein breites Publikum angesprochen werden kann. Die besuchte Vorstellung am Montag, dem 22. Dezember 2025 war praktisch ausverkauft, und es waren Besucher aller Altersklassen gekommen, die lange und ausdauernd applaudierten.

„Tootsie“ ist perfekte Unterhaltung mit Tiefgang, denn man hat sich intensiv mit Geschlechterrollen und Genderfragen auseinandergesetzt, auch wenn die LGBTQ-Problematik ausgeklammert war. Den Besuch mit Kindern ab 12 Jahren kann ich uneingeschränkt empfehlen, denn die Musik ist schmissig, die Situationskomik ist enorm, und die Choreografie ist beeindruckend. Das Musical läuft noch bis zum 14. Mai 2026.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 28. Dezember 2025

Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom OPERNMAGAZIN


Tootsie
Musical von David Yazbek (Musik und Gesangtexte) und Robert Horn (Libretto)
Deutsche Übersetzung von Roman Hinze

Theater Bonn

Besuchte Vorstellung: 22. Dezember 2025
Premiere: 26. Oktober 2025

Regie: Gil Mehmert
Dirigat: Jürgen Grimme
Beethoven Orchester

Besprechung der Premiere