Premiere am 30.10.2021
Ein Zwilling allein
Im Jahr 1883 schrieb der Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno erstmalig einen mehrfach wiederholten Wettbewerb für Komponisten aus. Zugelassen waren einaktige Opern. Diesen Wettbewerb gewann Pietro Mascagni 1889 mit seiner Oper „Cavalleria rusticana“. Auch Ruggero Leoncavallo beteiligte sich später an diesem Wettbewerb mit der Oper „I Pagliacci“.
Die wurde allerdings aus formalen Gründen abgelehnt, weil sie ein zweiaktiges Werk ist. Gleichwohl – „Cavalleria rusticana“ und „I Pagliacci“ sind die „Flaggschiffe“ des Verismo. Meistens werden beide Opern zusammen aufgeführt, weshalb sie auch als veristische Zwillinge bezeichnet werden. Andere Kopplungen sind eher die Ausnahme, aber Bremen hat „I Pagliacci“ sogar schon einmal (1964) zusammen mit Strawinskys „Die Nachtigall“ aufgeführt. In der neuen Opern-Premiere von Leoncavallos I Pagliacci (Der Bajazzo) kommt nun einer der „Zwillinge“ allein – wahrscheinlich weil kurze Opernabende ohne Pause in Corona-Zeiten noch als angemessen angesehen werden. Es gibt an diesem Abend drei Debüts und einen Abschied. Die aus Tschechien stammende Sopranistin Marie Smolka wechselte vom Landestheater Coburg fest ins Bremer Ensemble. Sie singt die Nedda. Der aus Korea stammende lyrische Bariton Elias Gyungseok Han debütiert als Silvio und Ulrike Schwab führt erstmals Regie am Bremer Theater. Der junge Dirigent Killian Farrell wird Ende des Jahres nach Stuttgart wechseln.
Wo ist die Grenze zwischen Künstler und Mensch? Wo die zwischen Bühne und Publikum? Gibt es sie überhaupt? Was fordert die Kunst? Und wie viel ist man bereit, dafür zu opfern? Das sind die Fragen, die Ulrike Schwab zum Ausgangspunkt ihrer Inszenierung gemacht hat. Und sie sucht am Beispiel des Künstlerehepaars Canio und Nedda darauf eine Antwort zu finden. Die Gauklertruppe um diese beiden ist eine Welt aus Schein, aus Eifersucht, aus Begehren und Verletzungen, aus unerfüllten Sehnsüchten. Nedda sehnt sich nach einem besseren Leben an der Seite ihres Liebhabers Silvio. Tonios Triebe münden in Bösartigkeit und Canio ahnt, dass er Neddas Liebe längt verloren hat und bringt sie am Ende um. Bei Schwab erschießt sie sich allerdings mit einem Gewehr und wird in ihrem blutverschmierten weißen Gewand wie eine Christus-Figur in die Höhe gezogen.
Für Bühne und Kostüme zeichnet Rebekka Dornhege Reyes verantwortlich. Ein richtiges Bühnenbild gibt es aber eigentlich nicht. Hier wird vor allem mit der Schwebebühne gearbeitet, bei der die Fläche mit ihren vielen Luken mal gekippt, mal in schwindelnde Höhen gefahren wird. Bei den Kostümen sind die Rollen zwischen den Gauklern und dem dörflichen Publikum getauscht. Canios Truppe ist fast normal gekleidet, während die Dorfbewohner in ihren knallbunten Kostümen eher in einem Zirkus angesiedelt sind. Ulrike Schwab hat viel im Performance-Bereich gearbeitet. Körperlichkeit und Bewegung sind ein zentrales Element ihrer Inszenierung. Gleich zu Beginn sieht man eine gläserne Vitrine, in der Nedda liegt. Ihr Körper wird quasi ausgestellt. Der Harlekin jongliert bei seiner Serenade und das rein orchestrale Intermezzo untermalen alle mit marionettenhaften, pantomimischen Bewegungen. Das Vogellied singt Nedda in einer Art Vogelkäfig in luftiger Höhe – ein etwas plattes Symbol, wenn auch schön anzusehen.
Überhaupt – längst nicht alles ist nachvollziehbar, was in Schwabs Regie auf der Bühne passiert. Warum wickelt sich Nedda in eine Plastikfolie? Warum verfolgt Canio seinen Nebenbuhler (eine lächerliche Szene!) unter einer Plane? Und warum stehen alle beim eigentlich dramatischen, aktionsreichen Finale in Glaskäfigen? Hier wurde mitunter überzogen. Nicht zwingend war auch das eingeschobene Lied In der Nacht von Robert Schumann, nur um auf ein anderes Künstlerehepaar (Robert und Clara Schumann) hinzuweisen. Dass Killian Farrell Bremen verlässt, kann man nur bedauern. Seine opulente Wiedergabe mit punktgenauen dramatischen Zuspitzungen, mit süffigem Wohlklang und Sinn für Proportionen war eine Klasse für sich. Das kann man auch von Marie Smolka sagen, die als Nedda ohne Einschränkungen überzeugte. Mit ihrem silbrigen und kraftvollen Sopran, mit ihrer feinen Pianokultur und ihrer attraktiven Bühnenerscheinung ist sie ein großer Gewinn für das Bremer Theater.
Dass Claudio Otelli ein Sängerdarsteller von Format ist, hat er wiederholt bewiesen. Auch als Tonio überzeugte er mit Präsenz und sehr höhensicherem Bariton. Luis Olivares Sandoval sang den Canio durchweg ansprechend, auch mit viel Leidenschaft, blieb aber etwas hinter seinen Möglichkeiten zurück Einen guten Eindruck hinterließen auch Elias Gyungseok Han als Silvio und Diego Silva als Harlekin. Ein Sonderlob gebührt dem prachtvoll auftrumpfenden Chor in der Einstudierung von Alice Meregaglia.
Wolfgang Denker, 31.10.2021
Fotos von Jörg Landsberg