„Die Oper aller Opern“, wie E.T.A Hoffmann Mozarts Don Giovanni bezeichnete, feierte im Theater Dortmund eine umjubelte Premiere. Am 29. Oktober 1787 fand die Uraufführung von Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni mit dem Libretto von Lorenzo da Ponte im Nationaltheater Prag statt. Bis heute ist Mozarts Geniestreich eine der meist gespielten Opern in aller Welt. Die Geschichte vom „bestraften Wüstling“, wie es im Untertitel so schön heißt, hat bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Es geht um Mord, Liebe, Erotik, Ausbeutung und Betrug, es geht um allgemeinmenschliche Fragen nach Gut und Böse, nach Schuld und Sühne, die Story entbehrt aber neben solcherart abgründiger und dämonischer Elemente nicht der komödiantischen und burlesken Züge und ist somit ein Drama giocosa. Die Hauptfigur dieser Oper, die u.a. bereits in Tirso de Molinas Theaterstück El burlador de Sevilla y convidado de piedra (Der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast) aus dem 17. Jahrhundert vorgezeichnet ist, darf getrost als bekanntester Playboy aller Zeiten bezeichnet werden.
Ob da Ponte bei der Charakterisierung dieses Urbilds eines skrupellosen Verführers, furchtlosen Atheisten und rebellischen Anarchisten den mit ihm befreundeten Casanova vor Augen hatte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Don Giovanni selbst äußert gegenüber Donna Anna zu Beginn der Oper: „Chi son io tu non sapri“ und spielt damit auch auf die Unberechenbarkeit und Zwiespältigkeit seines Wesens an. Er ist eben nicht nur der gewissenlose Frauenheld, sondern hinter der Fassade des beneidenswerten, das Leben in vollen Zügen genießenden Bonvivants verbirgt sich ein Getriebener und Gehetzter, der mit seinem zwanghaften Eroberungstrieb innere Leere und vergebliche Sinnsuche kaschiert. In ihrer Inszenierung betont die italienische Regisseurin Ilaria Lanzino die archetypischen Züge der Titelfigur. Don Giovanni ist bei ihr im Gegensatz zu den zeitgenössischen Personen eine zeitlose Figur. Mit seinem Kostüm (Kostüme: Emine Güner) eines spanischen Edelmanns früherer Jahrhunderte hebt er sich von dem modern gewandeten Personal der Oper deutlich ab. Er ist eher eine Projektion der geheimen Wünsche, aber auch Ängste der weiblichen Protagonistinnen, die immer wieder die äußerlich wohlanständige Fassade bürgerlicher Tugendhaftigkeit einreißen. In dem spießigen Ambiente einer Wohnung der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts (Bühne: Frank Philipp Schlößmann) wird die hochschwangere Donna Anna – wer ist der Vater? – in einer recht drastischen Vergewaltigungsszene als eine in ihren Gefühlen ambivalente Frau gezeigt, eine Deutung, die man mittlerweile aus vielen Inszenierungen des Don Giovanni kennt. Aber auch Donna Elvira ist in der Sicht der Regisseurin nicht nur die verlassene und betrogene Frau, sondern in der ersten Wiederbegegnung mit Don Giovanni, die in einem scheußlich grün gekachelten Badezimmer der unmittelbaren Nachkriegszeit stattfindet, tröstet sie sich sehr schnell mit Leporello und wirft sich den zufällig an ihrem Haus vorbeitanzenden jungen Männern an den Hals, die sie aber als ältere Frau abblitzen lassen.
Zerlina schließlich ist nur allzu schnell bereit, sich Don Giovanni in ihrem hochzeitlich geschmückten Schlafzimmer hinzugeben und reicht dem Herzensbrecher vorsorglich ein Kondom. Es stört sie nicht, dass auf Luftballons noch in großen Buchstaben ihre Initialen und die Masettos zusammen mit einem Herz angebliches Liebesglück verkünden. Die Botschaft, die Ilaria Lanzino ziemlich penetrant einem jeden vermitteln will, ist klar: eindeutige Zuweisungen von Gut und Böse, Täter und Opfer sind nicht möglich. Was darf man, was darf man nicht mehr? Das sind Fragen, die sich nicht nur die Personen auf der Bühne, sondern auch die Besucherinnen und Besucher im ausverkauften Haus stellen sollen. Auf seinem rauschenden Fest am Ende des ersten Aktes manipuliert Don Giovanni nicht nur alle Anwesenden, was rein optisch dadurch verdeutlicht wird, dass der mit Neonröhren an der Decke hell erleuchtete moderne Festsaal plötzlich in ein dunkles Rot getaucht wird (Licht: Kevin Schroeter) und die Festgesellschaft wie eingefroren verharrt, sondern alle Personen zeigen am Ende des Festes mit dem Finger aufeinander. Niemand ist ohne Schuld. Wenn dann auch noch der Zuschauerraum der Oper erhellt wird, dämmert es auch der letzten Zuschauerin und dem letzten Zuschauer im Saal. Alle sind ohne Ausnahme gemeint: Cosi fan tutte! In der Verwechslungsszene im zweiten Akt erleben wir dann noch einmal, dass Donna Elvira in der Wahl ihrer Liebhaber nicht wählerisch ist, sondern sich ganz bewusst mit Leporello einem Schäferstündchen hingibt. Da mag man eigentlich gar nicht mehr gerne hinschauen und ist gut beraten, mit geschlossenen Augen der herrlichen Musik Mozarts zu lauschen. Die Regisseurin lässt die Oper mit der Höllenfahrt Don Giovannis enden.
Der als Medusa erscheinende Komtur – warum eigentlich? – vollzieht stellvertretend an dem Wüstling die Strafe, die auch manch anderem unserer Zeitgenossen zu gelten hat. Das Dortmunder Publikum nahm die Inszenierung trotz einiger mehr als berechtigter Buhs freundlich auf. Mozarts herrliche Musik ist durch nichts, aber auch gar nichts tot zu kriegen, zumal wenn sie überwiegend so wunderbar dargeboten wird wie jetzt in Dortmund. Es schmerzt allerdings sehr, dass man sich in Dortmund entschlossen hat, Don Ottavios Arie Folget der Heißgeliebten und das anschließende Rezitativ und die Arie der Donna Anna in der von Mozart nachkomponierten Szene für die Wiener Premiere vom 30. April 1788 zu streichen. Dass auch das Schlusssextett dem Rotstift zum Opfer fällt, mag dramaturgisch verständlich sein, ist dennoch musikalisch ebenfalls ein großer Verlust.
Aber nun zu den Meriten der Aufführung. George Petrou, als Händel- und Rossiniinterpret ein weltweit gefeierter Dirigent, lässt Mozarts Meisterwerk mit den Dortmunder Philharmonikern und dem Opernchor Theater Dortmund (Fabio Mancini) beinahe kammermusikalisch filigran ganz wunderbar erklingen. Da stimmen die Tempi, da werden die Sängerinnen und Sänger nie zugedeckt, sondern im besten Sinne begleitet, da entwickeln ganz besonders die Streicher einen samtenen Klang. Anna Sohn bewältigt die anspruchsvolle Partie der Donna Anna mit Bravour. Ihre großen beiden Arien Or sai chi l’onore im 1. Akt, vor allem aber ihre Arie Crudele?Ah no, mio bene! werden so zu Höhepunkten vollendeter Gesangskunst an diesem Abend. Rollendeckend mit Silberstimme verkörpert Sooyeon Lee das Bauernmädchen Zerlina. Tanja Christine Kuhn verleiht der Figur der Elvira die nötige Expressivität. In der Titelrolle brilliert der bulgarische Bassist Denis Velev sängerisch und auch schauspielerisch in gleichem Maße. Er bringt für die Partie des Don Giovanni nicht nur die ideale äußerliche Figur mit, sondern verfügt über einen ungemein modulationsfähigen Bass mit schwarzer Tiefe und fulminanter Höhe. KS. Morgan Moody als umtriebiger Leporello überzeugt mit sehr beweglichem Bass-Bariton vor allem auch schauspielerisch als Gegenspieler Don Giovannis. Bei seiner berühmten Registerarie Madamina, il catalogo è questo gibt es aber doch noch einige Luft nach oben. Sungho Kim singt den Ohrwurm einer lyrischen Tenorarie Dalla sua pace mit betörender Klangschönheit und behauptet sich mit seinem idealen Mozarttenor auch in den Ensembleszenen. Daegyun Jeong als Masetto und vor allem Artyom Wasnetsov als Komtur mit beeindruckender Bassgewalt komplettieren ein Mozartensemble, auf das die Dortmunder Oper wirklich stolz sein darf. Das Publikum feierte vor allem die Musikerinnen und Musiker der Aufführung mit großem Jubel, der sich besonders bei Anna Sohn und Denis Velev noch um einige Grade verstärkte. Und das völlig zu Recht. Fazit: Die musikalischen Meriten des Dortmunder Don Giovanni rechtfertigen den Besuch einer der nächsten Vorstellungen allemal.
Norbert Pabelick 23. Januar 2025
Don Giovanni
Oper von Wolfgang Amadeus Mozart
Oper Dortmund
Premiere am 18. Januar 2025
Inszenierung: Ilaria Lanzino
Musikalische Leitung: George Petrou
Dortmunder Philharmoniker