Premiere: 11.11.17, besuchte Vorstellung: 15.11.17
Ungebrochen aktuell bis heute
Lieber Opernfreund-Freund,
manche Tragödie bleibt immer eine Tragödie. Die Geschichte einer Frau, die aus enttäuschter Liebe und tiefer Verletzung heraus zur Kindsmörderin wird, bedarf eigentlich keiner Aktualisierung. Wenn die aber so stimmig und gelungen von Statten geht, wie derzeit bei Cherubinis „Medea“ am Theater Erfurt, dann ist sie für das Werk durchaus ein Gewinn.
Hauschef Guy Montavon persönlich hat sich des antiken Dramas angenommen und es so gekonnt wie schlüssig in die Neuzeit geholt. An die Wall Street verlegt er die Geschichte der enttäuschten Mutter, die verlassen wurde und, als der Partner sich eine neue Partnerin sucht, schrecklichste Rache übt. Ausstatterin Annemarie Woods hat als Kulisse für diese Koproduktion mit den Theatern in Nizza und Linz ein Bürohochhaus mit Blick auf die Skyline-Umgebung New Yorks entworfen, gläsern und durchsichtig – und doch ein Kosmos für sich, hat sich für adrette Bürokleidung für die Belegschaft entschieden und ein extravagantes Brautkleid für Dirce geschneidert. Medea – eigentlich hier ja „Médée“, denn in Erfurt wird die französische Fassung gespielt – ist abgesetzte Firmenchefin, König Créon Konzernvorstand, das Goldene Vlies wird zum von jedermann bewunderten Kunstwerk in Form eines goldenen Widderschädels. Genau arbeitet Montavon die Vielschichtigkeit der Titelfigur heraus, ihr Schwanken zwischen Enttäuschung, Liebe, Hoffnung und Rachedurst. Die Figur Medea wird regelrecht inszeniert, ihre Auftritte sind so spektakulär wie einst die von Joan Collins im „Denver-Clan“. Dabei bleiben die anderen Charaktere ein wenig auf der Strecke. Jason ist hier nicht berechnender Karrierist, der sich Dircé nur zuwendet, weil ihr Vater der König von Korinth ist. Er liebt sie aufrichtig und hat sich eben einfach mit seiner Frau auseinandergelebt. Auch Créons Motive für sein Handeln bleiben unbeleuchtet, lediglich bei Neris wagt die Regie die Deutung, dass ihr Zuneigung und Ergebenheit zu Medea über das platonische Maß hinaus geht. Der Fokus ruht also eindeutig auf der Tragödie Medeas – und die bleibt eine Tragödie und wird in Erfurt auch überzeugend gesungen.
Diese Nuance ist nicht unerheblich, gibt es in Erfurt doch die gesprochenen (glücklicherweise deutlich gekürzten) Dialoge auf Deutsch. Sänger sind keine Schauspieler, für gewöhnlich drücken sie mit ihrer Stimme, ihrem Gesang aus, was die Figur bewegt, die sie verkörpern. Sind sie darüber hinaus noch darstellerisch überzeugend, spricht man beglückt von „Sängerdarstellern“, sie sind also offensichtlich schon mehr, als man von einem Sänger eigentlich erwarten darf. Sprechende Sänger wirken oft hölzern und ein bisschen fehl am Platz, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser genommen hat.
Das ist auch in Erfurt so – sängerisch überzeugen alle Protagonisten, geht’s an die gesprochenen Passagen, ist allein Ilia Papandreou in der Lage, mit klarer Textverständlichkeit und mit dem leidenschaftlichen, teils pathetischen Duktus einer griechischen Tragödin auch als Schauspielerin zu überzeugen. Und dazu singt sie noch exorbitant gut. Habe ich im ersten Akt noch ein wenig den Aplomb in den Höhen vermisst, hat sich das ehemalige Ensemblemitglied nach der Pause frei gesungen und ist eine dramatische wie mitfühlende Titelfigur, die mit betörender Mittellage und leidenschaftlicher Höhe zu überzeugen vermag. Eine intensive Sängerdarstellerin par excellence also. Gegenspielerin Dircé findet in Julia Neumann eine aparte Gestalterin, deren gefälliger Sopran sich mit wahnsinniger Geläufigkeit wie selbstverständlich in höchste Höhen schraubt, doch bleibt der Gesang der Sängerin seltsam seelenlos. Da rührt mich Eduard Martynyuk mehr an mit seinem feinen, farbenreichen Tenor. Als Jason zeigt er eine samtweiche Mittellage und beeindruckend scheinbar mühelose Höhe, wird aber von der Regie als Waschlappen gezeichnet, so dass man sich fragt, was die starke Medea gerade an DEM gefunden hat. Siyabulela Ntlale wirft als Créon seinen sonoren Bassbariton in die Waagschale und überzeugt als selbstbewusster Selfmademan. Julia Stein ist seit dieser Spielzeit neu im Ensemble und ein echter Gewinn für das Theater Erfurt. Ihre warmer, fast zärtlicher Mezzo passt ideal zur Figur der Neris.
Der Chor unter der Leitung von Andreas Ketelhut ist blendend in Form und meistert die Partie präzise und mit großer Spielfreude. Zu den Wurzeln des Komponisten bekennt man sich im Graben, das Dirigat von Samuel Bächli ist so leidenschaftlich und euphorisch, dass es dem italienischen Wesen wesentlich näher kommt, als der feinen französischen Zurückhaltung, nach der die gespielte kritische Edition von 2008 vielleicht verlangt. Dem Werk an sich schadet es nicht, entfacht der Maestro doch so auch beim Philharmonischen Orchester Erfurt ein wahrhaft feuriges Finale.
Dem Publikum im für eine Mittwochsvorstellung eines recht unbekannten Werkes erfreulicherweise extrem gut besuchten Haus hat es gefallen, Guy Montavon hat das Werk 220 Jahre nach seiner Uraufführung ja auch packend erzählt. Vor allem Ilia Papandreou wir bejubelt – und das zu Recht.
Ihr Jochen Rüth 16.11.2017
Die Fotos stammen von Lutz Edelhoff.